In einem leuchtend schoenen Land
geraten. Ich schwamm in fast unendlicher Unabhängigkeit und Freiheit, musste streng gesehen für nichts und niemanden Rechenschaft abgeben, war mein eigener Herr und Meister und mir drohte nicht bei Kleinigkeiten der soziale Absturz. Und doch bezahlte ich für diese vermeintliche Freiheit den Preis, dass ich in der Not auf wenig Menschliches zurückgreifen konnte. Unser gut strukturierter Staat hatte der Familie die Verantwortung aus den Händen genommen. Staatliche Unterstützung hatte einst die Notwendigkeit für die Großfamilie abgeschafft, wo die Alten von ihren Kindern bis zum Tode versorgt worden waren. Dabei teilte man damals nicht nur Einkommen und Aufgaben auf, sondern man sorgte auch emotional füreinander – und emotional konnte sich der Staat nicht um uns kümmern, dafür war kein Paragraph vorgesehen. Damit liefen wir im Alter unter Umständen Gefahr, in unserer Einsamkeit zu ertrinken.
Die Rente, die den Sri-Lankern in der Regel, wenn überhaupt, zur Verfügung stand, reichte kaum zum Leben und auf ein einigermaßen stabiles Sozialsystem konnten sie auch nicht zurückgreifen. Durchaus lobenswert empfand ich das Schulsystem, in welchem jedem Kind die Grundausbildung nicht nur zustand, sondern auch vom Staat finanziert wurde – oder die Krankenversorgung, die, wenngleich nicht luxuriös, so immerhin grundsätzlich vorhanden war. Die größten Lücken, entschied ich nach Erlebtem, klafften allerdings im Rechtssystem. In dieser Hinsicht dachte ich an die Schmiergeldskandale, die Deutschland regelmäßig überzogen, und empfand den Luxus, den sich die Minister auf Sri Lanka gönnten, im Verhältnis zur Armut geradezu grotesk. Da ließen sich die Minister in gepanzerten BMWs chauffieren und genehmigten sich – so die sporadischen, (miss-)mutigen Zeitungsberichte – Provisionen, die bei jeder Möglichkeit eingesteckt wurden, während die Bevölkerung von der Hand im Mund lebte.
Somit musste die Familie im gesetzlich geschürten Unrecht füreinander einstehen, wie es Jasintas Familie getan hatte. Das bedeutete allerdings auch, dass die Familienmitglieder sich verpflichteten, nach den Spielregeln der Familie zu spielen, was ihnen ein Stück Freiheit nahm, dafür jedoch menschliche Nähe schenkte.
Dort, wo die Familie nicht mehr weiterkam, halfen ihnen die Götter, Allah, Jesus und Buddha; Teufelsaustreiber, Orakel und einfache Priester, die versprachen, dem Wunder auf die Sprünge zu helfen. Es lohnt durchaus, einmal für eine Stunde in der Kirche oder einem Tempel in diesem ehrlichen, tiefen Glauben unterzutauchen, das wirkt wie ein Lebenselixier, besprenkelt die tägliche Tretmühle unseres Alltags mit heiteren Farben.
Jasinta hatte in ihrem Gottvertrauen (sie gehörte zu den 7,5% Katholiken der Insel) nicht nur unsere Kamera zurückerobert, sondern war noch einen Schritt weitergegangen und hatte Jim vergeben.
„Das meint er nicht so“, beteuerte sie und setzte leise hinzu, dass er sich vor Gott werde rechtfertigen müsse. Fortan verlor sie kein Wort mehr darüber. Gut gelaunt radelte sie wieder täglich durch den Compound, hatte keine offensichtlichen Hassgefühle von diesem traurigen Vorfall abbekommen.
Hätte ich Gott in einer meiner Schubladen im Unterbewusstsein gefunden, ich hätte ihn daraus hervorgezogen und ihm einen Schrein gebaut!
Ich kam nicht umhin, Jasinta und ihr Gottvertrauen als Beispiel dafür zu nehmen, wie nicht nur unter Nachbarn, sondern auch unter den Völkern dauerhaft Frieden einkehren könnte.
Und selbst wenn ich Jasinta nicht grundsätzlich zur Heiligen stempeln konnte; selbst wenn ich ihre demonstrierte Nächstenliebe, Größe und Gottvertrauen nicht überall gleichermaßen erlebte; selbst wenn auf Regierungsebene der streng buddhistische Präsident Unrecht sogar mit Buddha rechtfertigte; selbst dann hatte Jasinta bewiesen, was ein tiefer Glaube bewirken konnte.
Ob die Tatsache, dass Jim nur vier Wochen später an dem schwerwiegenden Dengue-Fieber erkrankt war, mit göttlichem Zorn zusammenhing, wusste ich nicht. Für Jasinta allerdings bestand kein Zweifel, dass hier mindestens Jesus seine Finger im Spiel gehabt hatte. Ich persönlich konnte daraus lediglich schließen, dass unsere Taten immer über irgendeinen Kanal zu uns zurückgeleitet werden und habe lange darüber nachgegrübelt, welche Missetat uns die Läuse einbrachte, die uns eines Tages befielen.
9. Von der Laus und anderem Alarm
Giftig ging ich bereits beim dritten Familienmitglied gegen den Juckreiz
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