In einer heißen Sommernacht
Bilde ich mir das ein, oder haben Sie auch eine subtile Warnung aus diesem Schlussgebet herausgehört? Und wer bestimmt, wer fehlgeleitet ist und wer nicht?«
Sie wusste, dass Mr Rainwaters Frage rhetorisch war, also gab sie keine Antwort.
Er blickte auf Solly, der lammfromm neben ihr stand und auf die Buntglasfenster starrte. » Ich habe keinen einzigen Mucks von diesem jungen Mann gehört. Das kann ich von Murdys Bengeln nicht behaupten.«
Ella lachte. » Ja, die können einen ziemlich auf Trab halten. Aber Solly hat sich heute sehr gut benommen.« Ihr war bewusst, dass sie angestarrt wurden, besonders als Mr Rainwater aufmerksam ihren Ellenbogen stützte, während sie die steile Kirchentreppe hinabstiegen. Als sie unten ankamen, zog sie rasch ihren Arm weg, aber überspielte es, indem sie sagte: » Ich habe Sie noch nie in der Kirche gesehen.«
» Das ist das erste Mal.«
» Wie fanden Sie die Predigt?«
» Langweilig.«
» Selbst die eifrigsten Kirchgänger waren heute kurz davor, einzunicken.« Sie lächelten sich an, dann senkte Ella den Kopf, dankbar für ihre Hutkrempe, die ihr half, das Gesicht zu verbergen. » Margaret hat heute Schweinebraten und zwei Obstkuchen gemacht. Wir sehen uns nachher am Sonntagstisch.« Sie wandte sich um und entfernte sich auf dem Bürgersteig, während sie Solly hinter sich herzog.
» Ich begleite Sie zu Ihrem Wagen.«
» Wir sind zu Fuß hier.«
» Dann fahre ich Sie nach Hause.«
» Danke, Mr Rainwater, aber wir müssen noch– etwas erledigen.«
» Ich kann Sie überall hinfahren.«
» Wir sind schon da, wo wir hin müssen.«
Sein Blick folgte ihrem ausgestreckten Finger, der auf den Friedhof neben der Kirche zeigte.
» Ich habe ein paar Blumen im Garten gepflückt für das– für meine Eltern.« In seiner Gegenwart widerstrebte es ihr, vom Tod zu sprechen und das Wort » Grab« zu sagen.
» Wo sind sie? Die Blumen«, fügte er erklärend hinzu, als Ellas Verwirrung darüber, ob seine Frage sich auf ihre Eltern bezog oder auf die Blumen, sich in ihrem Gesicht widerspiegelte.
» Ich habe sie in den Schatten gestellt, bevor wir in die Kirche gegangen sind, damit sie frisch bleiben.«
Er bedeutete ihr mit einem kurzen Nicken, dass sie vorangehen sollte.
» Sie brauchen nicht auf uns zu warten«, sagte Ella.
» Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich trotzdem warte?«
» Keineswegs. Es ist nur schrecklich heiß heute.«
» Es ist jeden Tag heiß. Die Hitze stört mich nicht besonders.«
Sie sah keine Möglichkeit, ihm die Sache auszureden, ohne die Aufmerksamkeit der Kirchenbesucher auf sich zu lenken, die auf dem Friedhof verweilten. Sie verzichtete auf weitere Diskussionen und führte ihn um das Kirchengebäude in den tiefen Schatten, wo ihr Strauß noch dastand, wie sie ihn zurückgelassen hatte. In dem Einweckglas steckten bunte Zinnien, zwei cremeweiße Gardenien und ein paar spät blühende gelbe Rosen, die bis jetzt der Sommerhitze getrotzt hatten.
Mr Rainwater hob das Einweckglas auf. » Die duften aber.«
» Ich fand sie sehr hübsch.«
Gemeinsam begaben sie sich zum Friedhof und traten durch das schmiedeeiserne Tor. Es schien Mr Rainwater nicht zu stören, an einem Ort zu sein, an dem der Tod allgegenwärtig war. Er las sichtlich interessiert die Namen und Daten auf den Grabsteinen, während sie die Grabstelle aufsuchten, wo ihre Eltern lagen.
Ella ließ Sollys Hand los und nahm Mr Rainwater die Blumen ab. Sie kniete sich vor das Grab und stellte das Glas mitten vor den Grabstein, auf dem die Namen eingraviert waren, die Geburts- und Todesdaten und eine einfache Inschrift: IM HIMMEL VEREINT FÜR ALLE EWIGKEIT .
Rechts und links waren zwei Einzelgräber, die jeweils nur aus einer im Boden eingefassten Gedenktafel aus Messing bestanden, auf der die Person benannt war, die dort begraben lag. Ella nahm zwei Rosen aus dem Glas und legte je eine auf die Nachbargräber.
» Ihre Zwillingsbrüder?«
Sie nickte und fragte sich, ob Mr Rainwater bemerkt hatte, dass es für sie selbst keinen Platz im Familiengrab gab. Ihre Beisetzung war nicht berücksichtigt worden.
Sie zupfte ein bisschen Unkraut und arrangierte die Blumen im Glas. Dann bürstete sie sich die Hände ab und stand auf.
» Kommen Sie jeden Sonntag hierher?«, fragte Mr Rainwater.
» Vielleicht einmal im Monat.«
» Ist Ihr Mann auch hier begraben?«
Die Frage kam unerwartet. » Nein«, antwortete sie, während sie nach Sollys Hand griff und rasch den Weg zurück zum Tor einschlug. » Er
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