In einer kalten Nacht: Roman (German Edition)
in dieser Stadt, und sie wird die gesamte Presse auf ihrer Seite haben. Morgen wird ihr Konterfei auf der Titelseite jeder Boulevardzeitung zu sehen sein, und wenn wir nicht aufpassen, ergeht es uns genauso. Und wenn wir nicht sehr aufpassen, könnten wir uns mitten in einem entsetzlichen Dokudrama wiederfinden. Also kommen wir noch gut mit einem Fotografen davon, der, soweit ich weiß, ein halbwegs menschliches Wesen ist. Heißt er nicht Harry Castilia? Oder Castigilia? Ich habe schon einmal etwas von ihm auf den Kunstseiten im Herald gesehen, alles schwarz und weiß und sehr düster. In der Kurzbio hieß es, er habe Preise für Arbeiten in Somalia und Darfur gewonnen. Gott weiß, was er aus diesem Haufen machen wird. Zumindest sind er und sein Kumpel angesehene Leute und besser als ein Kamerateam von einem Privatsender, das uns hinterherläuft«, sagte Quinn. »Oh, was ich noch sagen wollte … Browne ist im Krankenhaus und lässt sich untersuchen.« Sie rieb sich die Nase mit Daumen und Zeigefinger. Die Müdigkeit setzte ihr zu. Sie seufzte. »Glücklicherweise haben wir Iain Kennedy nicht gesagt, dass seine Frau tot ist, kurz bevor sie quicklebendig und mit stabilem Puls die Treppe herunterkommt. Hier ist Umsicht geboten.«
»Also behandeln wir den Fall, als sei er unserer? Mordversuch? Schwere Körperverletzung?«
»Solange man uns nichts anderes sagt. Kommen Sie.«
Anderson ließ den Motor an, setzte zurück und fuhr auf das kurze Stück Einfahrt vor dem Tor. Auf einem Metallpfosten flackerte ein Sensor, und Anderson drückte einen Knopf, um das Fahrerfenster zu öffnen und in die Gegensprechanlage zu reden, die erwartungsvoll knisterte.
»Fahren Sie weiter«, meinte Quinn. »Das Tor geht auf.«
»Muss an dem Sensor liegen.« Er fuhr langsam weiter und passierte das kleine Torhaus, dessen Licht sich durch den Nebel kämpfte. Langsam ging es die Einfahrt hinauf, immer am rechten Rand auf dem Kies entlang bis zum Hauptgebäude. Auf dem dichten Gebüsch an den Seiten glitzerte Raureif, hübsch wie auf einer Weihnachtskarte.
Die Einfahrt endete an einem gepflasterten Parkplatz vor dem großen Haus. Trüb leuchteten kleine Lichter vor der riesigen Vordertür. Anderson stellte den Honda Jazz neben einen BMW und einen Jaguar. »Und Sie führen diese Untersuchung als leitender Ermittler?«, fragte er, während sie zur Tür gingen.
Quinn sah zu ihm auf. Die Pracht der Umgebung, die Größe und das Alter von Strathearn verliehen dem Augenblick eine intime Note, als würden sie sich körperlich näher stehen, als es tatsächlich der Fall war. Andersons blondes Haar mit dem leichten Grauschleier war vollkommen zerzaust. Sein abgetragener Anorak war an den Schultern durchnässt. Trotzdem fühlte sie sich sicher bei ihm, absolut sicher. »Wollen Sie tatsächlich, dass ich mich wie ein leitender Ermittler aufführe? Ich weiß, Sie wollen es, aber …«
»Bitte, keinerlei Einwände von mir, Ma’am.« Anderson war erleichtert.
Quinn ging zu den Steinstufen und betätigte die Klingel. Man hörte, wie drinnen eine tiefe Glocke läutete.
»Was für ein Anwesen.« Anderson trat zurück und schaute hinauf. Das Haus war beeindruckend und in einer schottischen Version des italienischen Stils vor hundertfünfzig Jahren erbaut worden und verkörperte die Maßlosigkeit eines reichen Mannes. »Iain Kennedy hat zwei Jahre für die Renovierung gebraucht, die gerade erst fertig geworden ist. Muss mehrere Millionen wert sein. Wie viele Schlafzimmer hat es, was schätzen Sie? Zwölf?«
»Und der ganze Rest! Könnten Sie bitte Ihre Krawatte gerade richten?«
»In einer Minute werden Sie mich fragen, ob ich ein sauberes Taschentuch habe.« Trotzdem tat er, worum sie ihn gebeten hatte. Quinn hatte recht, und sie hatte allen Grund, viel verärgerter zu sein. Er übernahm die Aufgabe eines DC , aber sie erledigte als DCI die Arbeit eines DI . So ein Fall war das.
Wie er gesagt hatte, war Marita Kennedy nicht bloß irgendwer.
Wasser.
Ihr Gesicht unter Wasser.
Sie war frei.
Schwerelos.
In einem Kokon fern der Welt.
Ungeboren.
Sie war eine schwebende Blase, eine dahinfliegende Wolke.
Das leise Drängen des Wassers liebkoste sie. Sie öffnete die Hände, reckte sie zur Oberfläche, sie trieben dahin wie Laub. Dann versanken sie wieder.
Sie konnte nichts sehen außer dem Geflecht von Adern auf der Rückseite ihrer Lider, roten und goldenen Fäden, silbern umrissen, während sie selbst ebenfalls sank.
Sie hörte den Protest ihrer
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