In einer kalten Nacht: Roman (German Edition)
Bedürfnisse ihrer Schwester ausgibt.«
»Wie nett von ihr«, meinte Anderson überzeugt. »Das kann auch nicht so leicht sein.«
»Für die Publicity ist es bestimmt gut«, entgegnete Quinn beißend. »Aber die Schwester sieht normal aus, jedenfalls auf dem Foto.«
»Ich würde sagen, sie ist wirklich hübsch. Aber je mehr ich hinschaue, desto seltsamer erscheint mir dieser Fall«, meinte er. »Der Täter könnte es eigentlich auf Marita abgesehen haben.«
»Oder es handelt sich um einen zufälligen Überfall, einen Verrückten, der sich im Gebüsch versteckt hat«, sagte Quinn, die davon aber selbst nicht überzeugt war.
Anderson blickte scharf auf. »Draußen im Barochan Moss? Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Wegen dieses dusseligen Albatros laufen dort draußen alle möglichen schrägen Vögel herum. Daher gilt Ishbel Simm bislang offiziell als Opfer eines zufälligen Überfalls, DI Anderson«, beharrte Quinn nachdrücklich. »Bitte.«
Anderson nickte und stellte das Bild vorsichtig zurück.
»Sind Sie bereit, meinen Wagen zu fahren?«
»Natürlich, Ma’am.«
»Gut. Ich kann bei diesem Nebel nicht gleichzeitig fahren und ihre Unterhaltung belauschen. Und ich möchte sie ein bisschen aushorchen. Wir müssen erfahren, wie sie dort draußen hingekommen ist.«
Quinn und Anderson sahen sich grimmig in die Augen, als oben ein Schrei ertönte.
Im Krankenhaus herrschte Stille, gespenstische Stille. Costello suchte sich ein leeres Untersuchungszimmer, wo eine einzige Neonröhre leise vor sich hin brummte. Itsys Habseligkeiten waren in eine grüne Plastiktasche gestopft, der Platz für ihren Namen war mit diesen vier Buchstaben gefüllt, da niemand ihren richtigen Namen kannte. Dazu waren mit schwarzem Filzschreiber Einlieferungsdatum und -zeit eingetragen, außerdem eine Anmerkung, dass der Inhalt mit Körperflüssigkeiten verunreinigt sei.
O’Hare war eine Berühmtheit und neben Itsys Trage entlanggelaufen. Hinter ihnen knallten die Schwingtüren zu, während er mit den Ärzten medizinische Begriffe austauschte, so dass sie ohne die üblichen Verzögerungen vorankamen. Dann kam nacheinander eine Reihe Ärzte dazu, von denen jeder wichtiger klang als der vorige, und jeder sah aus, als hätte er ein niedrigeres Golf-Handicap als der letzte.
Costello zog sich Latexhandschuhe über und bedeckte die Untersuchungsliege mit Papier von einer großen Rolle, damit nichts verloren ging. Sie packte die Tasche aus und fing mit den Ugg -Boots an – es waren die teuren Originale. Sie drehte sie um: Die Sohlen zeigten keine Kratzer oder Kerben, anhand derer man sie von anderen unterscheiden könnte. Das beige Wildleder hatte noch keine Wasserränder, sie waren demnach noch sehr neu – oder ein Weihnachtsgeschenk, das nicht getragen worden war. Marita würde wissen, woher Itsy sie hatte. Sie sah sich die Socken an, Tigger-Socken, die sich anfühlten, als seien sie ein Leben lang immer wieder gewaschen worden. So dünne Söckchen in einer solchen Nacht. Sie selbst trug über den normalen ein Paar Wollsocken, dennoch hatten sich ihre Füße wie Eisklumpen angefühlt, nachdem sie vom Wagen zu dem Wäldchen gegangen war. Itsys Füße mussten da draußen richtig eingefroren sein.
Es gab einen seltsamen Stilbruch in Itsys Kleidung. Das Seidentop, das in diesem Licht pfirsichfarben aussah und jetzt vorn aufgeschlitzt war, hatte ein Schildchen von Chanel, der Dufflecoat war von Primark. Und die Strickjacke war aus Kaschmirwolle. Darunter hatte Itsy ein verwaschenes T-Shirt getragen, ebenfalls aufgeschnitten und blutverschmiert, sowie eine alte Thermoweste, die unter den Armen baumelte. Hatte Itsy die Angewohnheit, sich bei ihrer Schwester Kleidung zu leihen oder sie ihr zu stehlen? Die Foliendecke befand sich ebenfalls in der Tasche, aber Costello schlug sie nicht auf. Sorgfältig suchte sie die große praktische Sloggi-Unterhose ab, fand jedoch kein Blut und kein Anzeichen für Risse oder gewaltsames Ausziehen. Dann entdeckte sie etwas, was sie zunächst für ein Taschentuch hielt, was sich jedoch, als sie es aufklappte, als ein Höschen entpuppte. La Perla aus Seide, die Art Höschen, von der man wusste, dass man sie nicht lange am Leib haben würde, die Sorte, von der man sich wünschte, dass ein Mann sie mit den Zähnen auszieht. Zwei Unterhosen? Warum? Costello dachte einen Moment lang nach und betrachtete die teure Seide. Ein geheimes Doppelleben? Die »öffentliche« Itsy und die andere für sie? Oder für ihn?
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