In einer kalten Nacht: Roman (German Edition)
Anschein, als würde er die Nacht auf dem Revier verbringen müssen. Mal wieder.
»Erzählen Sie mir von Itsy«, versuchte er es.
Diane seufzte. »Itsy besitzt die Lesefähigkeit einer Achtjährigen, wenn überhaupt. Bobby ist … eigenartig. Ein seltsamer Junge. Er redet nicht viel, daher glaubt man schnell, er sei wie Itsy ein wenig zurückgeblieben. Aber das kann man schlecht sagen. Er … er und Itsy mögen sich sehr …« Sie zuckte mit den Schultern.
Anderson fiel auf, dass Diane sofort eine Verbindung hergestellt hatte – Bobby und Itsy, Itsy und Bobby –, und zog ermutigend die Augenbrauen hoch. »Er …?«
»Er ist anders.« Diane tunkte einen Schokoladenkeks in den Kaffee. »Er spricht mit Pflanzen. Er spricht mit Vögeln. Er ist ein Fan von Partick Thistle. Vermutlich ist das eine Form von Geisteskrankheit.«
»Sie haben gesagt: ›Junge‹. Wie alt ist er denn?«
»Oh, so etwa Ende dreißig. Ich habe wirklich keine Ahnung.« Plötzlich langweilte sich Diane über Bobby als Gesprächsthema. Sie nahm sich noch einen Schokoladenkeks. »Sorgen haben wir uns allerdings wegen des Stalkings gemacht.«
»Itsy hatte einen Stalker?«
»Nein, Mrs. Kennedy. Aber ich schätze, die Geschichte kennen Sie in- und auswendig.«
Anderson nickte.
»Natürlich ist sie eine sehr beschäftigte Frau. Nur wenige Leute sehen ein, wie hart sie arbeiten muss.«
Anderson nickte abermals und ließ sie weiterreden, da er wusste, er würde den Zusammenhang früher oder später verstehen.
»Sie ist außerordentlich großzügig und hat Tony ins Herz geschlossen. Auch Bobby nimmt sie so, wie er ist. Na ja, ich denke, man würde auch vermuten, dass sie auch Itsy so nimmt, wo sie doch Schwestern sind …«
»Sie so nimmt …?«
»Itsy musste ins Heim, nachdem die Mutter gestorben war. Als sie herauskam, war sie still, gehorsam und ohne den Verstand, mit dem sie geboren wurde. Und nachdem sie zwei Minuten hier war, wurde sie plötzlich so listig wie eine Horde Affen. Nicht boshaft, aber man konnte sich schon wundern.«
Wundern? Worüber? »Und was genau ist eigentlich Itsys Problem?«, erkundigte sich Anderson.
»Oh, ein Gehirnschaden. Etwas in der Art.« Diane winkte ab. »Doch das hindert sie nicht daran, uns alle auf die Palme zu bringen. Meine Geduld hat sie auch oft genug auf die Probe gestellt, das kann ich Ihnen sagen.«
»Ich weiß, was Sie meinen. Mein Sohn ist auch so eine Nervensäge«, meinte Anderson ermutigend und erinnerte sich an die alten Zeiten, als Peter tatsächlich noch eine Nervensäge gewesen war.
»Sie führt immer irgendetwas im Schilde, spielt den Narren, schlägt Räder auf dem Rasen – Bobby hat ihr das beigebracht. Also bei einem kleinen Mädchen kann man das ja verstehen, aber nicht bei einer erwachsenen Frau über dreißig. Und schon gar nicht bei der Schwester von Mrs. Kennedy.«
»Bestimmt nicht«, sagte Anderson, dem die Vorstellung von der freiheitsliebenden Itsy gefiel, die eine naserümpfende Diane ärgerte.
»Und dann« – Diane beugte sich ein wenig zu dicht heran – »immer dieser Unfug mit dem Weglaufen. Die Jungen haben sie dazu ermuntert und sie mit zum Vogelbeobachten genommen und ihr alle Vogelnamen beigebracht. Und ständig hocken die drei im Gewächshaus.«
»Warum denn?«, wollte Anderson wissen, und leise Alarmglocken rissen ihn aus dem Dämmerzustand.
»Oh, Pflanzen für die Küche, die sie aus Samen hochziehen. Itsy hilft gern, und Mrs. Kennedy ist glücklich damit, weil sie dann wenigstens beschäftigt ist. Ich sage ›hilft‹, aber mal ehrlich: Wettrennen mit Schubkarren! Solch ein Geschrei und Lachen haben Sie noch nie gehört. Es treibt Mrs. Kennedy in den Wahnsinn, denn eigentlich sollen die Jungen ja arbeiten. Ich meine, man kann ja schon mal fünf gerade sein lassen, aber man muss es nicht gleich übertreiben, oder?«
»Bobby, Tony und Itsy?« Anderson tat, als sei er verwirrt. »Wie alt ist Tony?«
»Oh, er ist über sechzig, alt genug, um es besser zu wissen. Mit Bobby und Tony könnten Sie zwar reden, aber sie würden doch nichts begreifen, so dusselig sind die.«
So langsam dämmerte es Anderson, dass er die ganze Nacht hier sitzen könnte und doch nur überhebliches Gerede von Diane zu hören bekommen würde. Halb dachte er, das wäre vielleicht gar nicht so schlecht, wenn sie den wunderbaren Kaffee nachschenken und vielleicht noch eine Schachtel Kekse aufmachen würde. Aber er musste noch zurück zum Barochan Moss, und je weiter er das aufschob,
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