In einer kalten Nacht: Roman (German Edition)
seine Adern pumpte und ihn weckte.
Das Gesicht gehörte Emily Corbett. Glänzendes dunkles Haar, perfekte Haut, perfektes Lächeln. Ein freundliches Gesicht, aber selbst mit achtzehn hatte sie schon so ein Glitzern in den Augen, als würde sie der einzig mögliche Weg an die Spitze führen. Sie war die Beste an ihrer Highschool gewesen, mit einem Ehrenpreis für ihre Arbeit mit alten Leuten in der Gemeinde ausgezeichnet worden, und sie wollte Jura in Glasgow studieren.
Durch Andersons Hirn zuckte ein Geistesblitz. Gab es hier eine Verbindung? Ihr Vater war Anwalt. Bewegte er sich in den gleichen Kreisen wie Iain Kennedy? Alan McAlpine hatte immer gestöhnt, die Leute im Rotary Club und in anderen Wohltätigkeitsvereinen seien genauso schlimm wie die Freimaurer.
Er sah die Adresse der Corbetts nach: Emily war in der Kelvin Avenue aufgewachsen, nur eine Meile vom Revier und weniger als eine halbe Meile von Strathearn entfernt. Dort wohnte sie noch und wurde vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr betreut. Das war eine Vernehmung, auf die sich Anderson nicht freute. Er stellte sich einen Raum wie eine orthopädische Praxis vor, ein Bett mit geriffelter Matratze gegen Wundliegen. Die Mutter war, wie er sich erinnerte, vor einigen Jahren an Krebs gestorben. Nach einer kurzen Phase mit unwillkommener Aktivität hatte Donald Corbett wieder als Anwalt für Gesellschaftsrecht in London gearbeitet, kam jedoch am Wochenende nach Glasgow. Niemand schien zu wissen, was aus seiner älteren Tochter, Emilys Schwester, geworden war. Eigentlich fand Anderson inmitten all dieser Berichte und Faxe nirgendwo ihren Namen. Überall stand nur »Emilys Schwester«.
Er betrachtete das andere Bild von Emily, auf dem ihr hübsches Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verprügelt und mit blauen Blutergüssen überzogen war. Das linke Auge war zugeschwollen. Auf dem Auge war sie blind geblieben, und durch die Gehirnblutung hatte sie die Sprache und einen großen Teil der motorischen Kontrolle verloren. Aber sie hatte überlebt – wenigstens schlug ihr Herz noch. Was für eine Lebensqualität damit verbunden war, stand auf einem anderen Blatt. Er scrollte nach unten und suchte die ursprüngliche Aussage des Opfers, und voller Schrecken stellte er fest, dass Quinn keinesfalls übertrieben hatte, als sie gesagt hatte, Emily habe auf das Opfer gezeigt. Die Vernehmung, wenn man sie denn so nennen durfte, hatte in einem Raum im Krankenhaus stattgefunden, nur wenige Stunden nachdem Emily aus dem OP gekommen war. Auf der Basis von Donnas Aussage hatte DI Yorke Anweisung gegeben, dass man Emily vier Fotos zeigen solle – von Whyte und drei anderen Männern. Beim Anblick von Whytes Bild hatte sie so heftig reagiert, dass man sie sedieren musste. Zwei Tage später hatten sie es mit einer Tafel versucht. Sie hatte sich bis zur Erschöpfung abgemüht, alles zu erklären – zwei Männer, einer davon Whyte, und eine Waffe, die man ihr an den Kopf hielt –, und sie war nicht von ihrer Geschichte abgewichen. Kein Wunder, dass DI Yorke völlig überzeugt von Whytes Schuld gewesen war.
Anderson blätterte den Bericht des Arztes durch, eine Fotokopie mit viel handschriftlichem Gekritzel. Der Bericht war knapp, wie gewöhnlich, wenn das Opfer überlebt hatte, und längst nicht so ausführlich wie bei einem guten Post-mortem-Bericht. Emily war mit einem eingedrückten Bruch an der Verbindung von Schläfe und Scheitelbein eingeliefert worden, und die Computertomografie hatte eine Stoßverletzung im Gaumen gezeigt, die durch einen schmalen stumpfen Gegenstand entstanden war, welchen man ihr mit großer Gewalt in den Mund gestoßen hatte. In den Randbemerkungen gab es eine handschriftliche Notiz, dass der Chirurg bei der Reinigung des Bereichs, um eine Brücke einzusetzen, mit welcher der Gaumen stabilisiert werden sollte, eine ölige schwarze Substanz auf der inneren Oberfläche des Gaumenknochens gefunden hatte. O’Hare hatte das erwähnt. Man hatte Röntgenbilder erstellt, doch so, wie sich die Akte anfühlte, waren sie nicht enthalten. Die Lebenden hatten ein Recht auf Vertraulichkeit, die Toten nicht. Ursprünglich war man davon ausgegangen, dass man ihr die Waffe zuerst an den Kopf gehalten und den Lauf dann durch den Gaumen gerammt und damit die Nasenscheidewand sowie ihre Zähne zerschmettert hatte.
Unwillkürlich fuhr er sich mit der Zunge über den eigenen Gaumen. Die innere Oberfläche des Knochens? Die obere bedeutete das wohl. Die ölige schwarze
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