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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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auf dem Tisch neben ihrem Bett stand, und stellte fest, daß der Tag schon vor etlichen Stunden angebrochen war. Sie war auch nicht gekommen, um sich etwas anzuziehen; für Nettie genügte der Morgenrock. Aber sie brauchte eine Tablette. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie eine Tablette so dringend gebraucht wie jetzt.
    Sie wußte nicht, wie schlimm es in Wirklichkeit um sie bestellt war, bis sie versuchte, eine zu nehmen. Die Tabletten – eigentlich Kapseln – lagen in einer kleinen Glasschale auf dem Sims des Schmuckkamins. Sie schaffte es zwar, ihre Hand in die Schale zu bekommen, war aber völlig außerstande, eine der Kapseln zu ergreifen. Ihre Finger glichen den Greifern einer Maschine, die aus Mangel an Öl zum Stillstand gekommen ist.
    Sie versuchte es angestrengter, konzentrierte ihre ganze Willenskraft darauf, ihre Finger zu veranlassen, daß sie sich um eine der Gelatinekapseln schlossen. Sie wurde mit einer leichten Bewegung und einem heftigen Aufflackern von Schmerz belohnt. Das war alles. Vor Pein und Verzweiflung gab sie ein leises, murmelndes Geräusch von sich.
    »Polly?« Netties Stimme, die jetzt vom Fuß der Treppe kam, klang beunruhigt. Die Leute in Castle Rock mochten Nettie für verwirrt halten, dachte Polly, aber wenn es um Pollys Befinden ging, war Nettie keineswegs verwirrt. Sie war schon zu lange bei ihr, als daß man ihr etwas vormachen konnte.
    »Polly, ist wirklich alles in Ordnung?« »Ich komme gleich herunter«, rief sie zurück, wobei sie versuchte, vergnügt und munter zu klingen. Und als sie ihre Hand aus der Schale nahm und den Kopf darüber neigte, dachte sie: Bitte, Gott, laß sie jetzt nicht heraufkomme. Laß sie nicht sehen, was ich da mache.
    Sie senkte ihr Gesicht in die Schale wie ein Hund, der aus seiner Schüssel trinken will, und streckte die Zunge heraus. Schmerz, Scham, Entsetzen und vor allem eine dunkle Depression umhüllten sie. Sie drückte die Zunge auf einer der Kapseln, bis sie an ihr haftete. Sie beförderte sie in den Mund, jetzt nicht ein Hund, sondern ein Ameisenbär, der sich einen schmackhaften Bissen einverleibt, und schluckte.
    Als sich die Tablette ihren kleinen, harten Pfad durch ihre Kehle bahnte, dachte sie abermals: Ich würde alles dafür geben, um das loszuwerden. Alles. Alles Erdenkliche.

4
     
    Hugh Priest träumte nur noch selten; in letzter Zeit ging er kaum noch schlafen, sondern fiel besinnungslos um. Aber in der letzten Nacht hatte er einen Traum gehabt, einen tollen Traum. In dem Traum hatte er alles erfahren, was er wissen mußte, und alles, was er tun sollte.
    In dem Traum hatte er an seinem Küchentisch gesessen, ein Bier getrunken und sich eine Spielshow angesehen, die Sale of the Century hieß. Was darin zu gewinnen war, waren lauter Dinge, die er in diesem Laden, Needful Things, gesehen hatte. Und alle Kandidaten bluteten aus den Ohren und aus den Augenwinkeln. Sie lachten, aber sie sahen aus, als hätten sie entsetzliche Angst.
    Ganz plötzlich begann eine dumpfe Stimme zu rufen: »Hugh! Hugh! Laß mich heraus, Hugh!«
    Sie kam aus dem Schrank. Er ging hinüber und öffnete ihn, bereit, denjenigen, der sich darin versteckt hatte, zusammenzuschlagen. Aber es war niemand darin; nur das normale Durcheinander – Stiefel, Schals, Mäntel, Angelgerät und seine beiden Gewehre.
    »Hugh!«
    Er schaute hoch, denn die Stimme kam vom obersten Bord.
    Es war der Fuchsschwanz. Der Fuchsschwanz redete. Und Hugh erkannte die Stimme sofort. Es war die Stimme von Leland Gaunt. Er hatte den Fuchsschwanz heruntergeholt, abermals seine samtige Weichheit genossen, eine Beschaffenheit, die sich ein wenig wie Seide anfühlte, ein wenig wie Wolle, und die dennoch von ganz eigener Art war.
    »Danke, Hugh«, sagte der Fuchsschwanz. »Hier drinnen ist es ziemlich stickig. Und du hast eine alte Pfeife auf dem Bord liegengelassen. Sie stinkt. Puh!«
    »Soll ich dich irgendwo anders hinlegen?« hatte Hugh gefragt. Es kam ihm ein bißchen albern vor, sich mit einem Fuchsschwanz zu unterhalten, selbst im Traum.
    »Nein – ich gewöhne mich allmählich daran. Aber ich muß mit dir reden. Du hast etwas zu tun, erinnerst du dich? Du hast es versprochen.«
    »Die verrückte Nettie«, pflichtete er ihm bei. »Ich soll der verrückten Nettie einen Streich spielen.«
    »So ist es«, sagte der Fuchsschwanz, »und du mußt es tun, sobald du aufgewacht bist. Also hör zu.«
    Hugh hatte zugehört.
    Der Fuchsschwanz hatte ihm erklärt, daß niemand im Haus sein

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