Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
Morgenrock in ihrem Schlafzimmer herum.
    Nur, daß es nicht ihr Schlafzimmer war.
    Wenn sie die Sonnenbrille aufsetzte, die Mr. Gaunt ihr verkauft hatte, war sie in Graceland.
    Sie tanzte durch phantastische Räume, die nach Fichtennadelsalz und fast food rochen, Räume, in denen man nur das leise Summen der Klimaanlage hörte (nur einige wenige Fenster in Graceland ließen sich öffnen; die meisten waren zugenagelt, und bei allen waren die Vorhänge zugezogen), das Flüstern ihrer Füße auf den dicken Teppichen – und Elvis, der mit seiner eindringlichen, flehentlichen Stimme »My Wish Came True« sang. Sie tanzte unter dem riesigen Kronleuchter aus französischem Kristall im Eßzimmer. Sie ließ ihre Hände über die üppigen blauen Samtvorhänge gleiten. Die Möbel waren französischer Provinzialismus. Die Wände waren blutrot.
    Die Szene veränderte sich wie eine Überblendung in einem Film, und Cora fand sich in einem Kellerraum. Da reihten sich Gestelle mit Geweihen an einer Wand und gerahmte Goldene Schallplatten an einer anderen. Leere Fernsehschirme füllten eine dritte Wand. Hinter der langen, geschwungenen Bar waren Borde voller Gatorade: Orangen-, Limonen-, Zitronengeschmack.
    Der Wechsler an ihrem alten tragbaren Plattenspieler mit dem Foto von The King auf den Vinyldeckel klickerte. Eine weitere Fünfundvierziger fiel herunter. Elvis begann »Blue Hawaii« zu singen, und Cora glitt Hula-Hula tanzend in den Jungle Room mit seinen finsteren Tiki-Gottheiten, der Couch mit den Armlehnen in Gestalt von Wasserspeiern, dem Spiegel mit seinem duftigen Rahmen aus Federn, die aus der Brust von lebenden Fasanen herausgerissen worden waren.
    Sie tanzte. Mit der Sonnenbrille, die sie in Needful Things gekauft hatte, tanzte sie. Sie tanzte in Graceland, während ihr Sohn wieder nach oben schlich und sich aufs Bett legte, das schmale Gesicht von Sandy Koufax betrachtete und über Alibis und Schrotflinten nachdachte.

3
     
    Die Grundschule von Castle Rock war ein düsterer roter Ziegelkasten zwischen dem Postamt und Bibliothek, ein Überbleibsel aus jener Zeit, in der den Verantwortlichen der Stadt beim Gedanken an eine Schule erst dann richtig wohl war, wenn sie aussah wie eine Besserungsanstalt. Die Schule war 1926 gebaut worden und entsprach dieser speziellen Anforderung aufs beste. Jedes Jahr rückte die Stadt dem Entschluß ein wenig näher, eine neue Schule zu bauen, eine, die richtige Fenster hatte anstelle von Gucklöchern, einen Spielplatz, der nicht aussah wie ein Gefängnishof, und Klassenzimmer, die im Winter tatsächlich warm wurden.
    Sally Ratcliffes Sprechtherapieraum war nachträglich im Keller eingerichtet worden, eingekeilt zwischen dem Heizungsraum und dem Vorratslager mit seinen Stapeln von Papiertaschentüchern, Kreide, Ginn & Company-Lehrbüchern und Fässern mit duftendem rotem Sägemehl. Zwischen dem Lehrerpult und sechs kleineren Schülerpulten war kaum noch genug Platz, um sich umzudrehen; trotzdem hatte Sally versucht, den Raum so anheimelnd wie möglich zu machen. Sie wußte, daß die meisten der Kinder, denen Sprechtherapie verordnet worden war – die Stotterer, die Lispler, die Dyslektiker, die Nasalblockierungen -, sie als beängstigend empfanden und unglücklich darüber waren. Sie wurden von den Altersgenossen gehänselt und von den Eltern verhört. Es mußte nicht sein, daß der Unterricht überdies noch in einer tristen Umgebung stattfand.
    Also hingen zwei Mobiles von den staubigen Rohren an der Decke herab, Bilder von Fernseh- und Rockstars schmückten die Wände und ein großes Garfield-Poster die Tür. In der Sprechblase, die aus Garfields Mund kam, stand: »Wenn ein cooler Kater wie ich einen solchen Mist verzapfen kann, dann kannst du es auch!«
    Mit ihren Akten war sie weit im Rückstand, obwohl die Schule erst vor fünf Wochen wieder angefangen hatte. Sie hatte vorgehabt, den ganzen Tag daran zu arbeiten; aber um Viertel nach eins raffte Sally sie alle zusammen, stopfte sie wieder in den Aktenschrank, aus dem sie sie herausgeholt hatte, schlug die Schranktür zu und schloß sie ab. Sie redete sich ein, sie machte früh Schluß, weil der Tag zu schön war, um ihn in einem Kellerraum zu verbringen, selbst wenn der Heizkessel zur Abwechslung einmal still war. Doch das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Sie hatte für diesen Nachmittag ganz besondere Pläne.
    Sie wollte nach Hause, wollte in ihrem Sessel am Fenster sitzen, während die Sonne in ihren Schoß flutete, und sie

Weitere Kostenlose Bücher