In einer kleinen Stad
lag, und wieder hatte sie das merkwürdige Gefühl, daß sich in ihr etwas bewegte. Im gleichen Augenblick schossen grauenhafte Schmerzkrämpfe durch ihre Hände und breiteten sich aus wie ein Netzwerk aus grausamen Stahlhaken. Polly stöhnte laut auf.
Mr. Gaunt krümmte den Finger, den er auf sie gerichtet hatte, zu einer Geste des Herwinkens. Sie spürte abermals die Bewegung in der silbernen Kugel, diesmal deutlicher, und die Schmerzen waren verschwunden.
»Sie wollen doch nicht, daß es wieder so wird wie früher, nicht wahr, Polly?« fragte Mr. Gaunt mit seidenweicher Stimme.
»Nein!« schrie sie. Ihre Brüste hoben und senkten sich. Ihre Hände begannen, wilde Waschbewegungen zu vollführen, eine gegen die andere, und ihre weit aufgerissenen Augen wichen den seinen keine Sekunde aus. »Bitte, nein!«
»Weil es noch schlimmer werden könnte, nicht wahr?«
»Ja! Ja, das könnte es!«
»Und niemand hat Verständnis dafür, nicht wahr? Nicht einmal der Sheriff. Er weiß nicht, wie es sich anfühlt, wenn man um zwei Uhr morgens mit der Hölle in den Händen aufwacht, nicht wahr?«
Sie schüttelte den Kopf und begann zu weinen.
»Tun Sie, was ich Ihnen sage, Polly, dann werden Sie nie wieder auf diese Art aufwachen. Und da ist noch etwas – tun Sie, was ich Ihnen sage, und wenn irgend jemand in Castle Rock erfährt, daß Ihr Sohn in einer Mietwohnung in San Francisco verbrannt ist, dann hat er es nicht von mir erfahren.«
Polly stieß einen heiseren, verzweifelten Schrei aus – den Schrei einer Frau, die sich hoffnungslos in einem zermürbenden Alptraum verfangen hat.
Mr. Gaunt lächelte.
»Es gibt noch weitere Höllen außer der einen, nicht wahr, Polly?«
»Woher wissen Sie über ihn Bescheid?« flüsterte sie. »Niemand weiß es. Nicht einmal Alan. Ich habe Alan erzählt...«
»Ich weiß es, weil das Wissen zu meinem Geschäft gehört. Und der Argwohn zu seinem, Polly – Alan hat nie geglaubt, was Sie ihm erzählt haben.«
»Er hat gesagt...«
»Ich bin sicher, daß er alles mögliche gesagt hat, aber geglaubt hat er Ihnen nie. Die Frau, die Sie als Babysitter angestellt hatten, war drogensüchtig, nicht wahr? Das war nicht Ihre Schuld, aber natürlich beruhte alles, was zu dieser Situation führte, auf einer persönlichen Entscheidung, nicht wahr, Polly? Auf Ihrer Entscheidung. Die junge Frau, die Sie angestellt hatten, um auf Kelton aufzupassen, sackte weg und ließ eine Zigarette – oder vielleicht auch einen Joint – in den Papierkorb fallen. Der Finger, der den Abzug betätigte, könnte man sagen, war ihrer, aber die Waffe war geladen um Ihres Stolzes willen, Ihrer Unfähigkeit, vor Ihren Eltern und den anderen guten Leuten von Castle Rock den Nacken zu beugen.«
Polly schluchzte jetzt heftiger.
»Aber hat eine junge Frau denn nicht Anspruch auf ihren Stolz?« fragte Mr. Gaunt sanft. »Wenn alles andere verloren ist, hat sie dann nicht zumindest Anspruch auf ihn, die Münze, ohne die ihr Geldbeutel völlig leer sein würde?«
Polly hob ihr tränenüberströmtes, trotziges Gesicht. »Ich dachte, das wäre meine Sache«, sagte sie. »Das denke ich immer noch. Und wenn das Stolz ist – nun, wenn schon.«
»Ja«, sagte er besänftigend. »Gesprochen wie ein wahrer Kämpe – aber sie wollten doch, daß Sie zurückkommen, nicht wahr? Ihre Mutter und Ihr Vater. Es wäre vielleicht nicht angenehm gewesen – mit dem Kind, das immer da war, um sie zu erinnern, mit der Art, auf die in einem kleinen Nest wie diesem geklatscht wird -, aber es wäre möglich gewesen.«
»Ja, und ich hätte meine Tage nur damit verbracht, aufzupassen, daß meine Mutter mich nicht unter den Daumen bekommt!« rief sie mit einer wütenden, häßlichen Stimme, die ihrem normalen Tonfall kaum noch ähnelte.
»Ja«, sagte Mr. Gaunt ebenso besänftigend wie zuvor. »Al- so sind Sie geblieben, wo Sie waren. Sie hatten Kelton, und Sie hatten Ihren Stolz. Und als Kelton tot war, hatten Sie noch immer Ihren Stolz, nicht wahr?«
Polly weinte vor Kummer und Qual und schlug die Hände vor das nasse Gesicht.
»Das schmerzt noch mehr als Ihre Hände, nicht wahr?« fragte Mr. Gaunt. Polly nickte, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen. Mr. Gaunt legte seine eigenen, häßlichen, langfingrigen Hände hinter seinen Kopf und sprach im Tonfall eines Mannes, der eine Lobrede hält. »Menschlichkeit! So nobel! So willens, den Mitmenschen zu opfern!«
»Hören Sie auf«, stöhnte sie. »Können Sie denn nicht aufhören?«
»Es ist
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