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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Ihr Geheimnis, nicht wahr, Patricia?«
    »Ja.«
    Er berührte ihre Stirn. Polly stieß ein würgendes Stöhnen aus, wich aber nicht zurück.
    »Das ist eine Tür zur Hölle, die Sie verschlossen halten möchten, nicht wahr?«
    Sie nickte hinter ihren Händen.
    »Dann tun Sie, was ich Ihnen sage, Polly«, flüsterte er. Er zog eine ihrer Hände von ihrem Gesicht ab und begann, sie zu streicheln. »Tun Sie, was ich Ihnen sagte, und halten Sie den Mund.« Er betrachtete ihre nassen Wangen und ihre überfließenden, geröteten Augen. Einen Augenblick lang waren seine Lippen vor Abscheu verzogen.
    »Ich weiß nicht, was mir mehr zuwider ist – eine weinende Frau oder ein lachender Mann. Wischen Sie sich Ihr verdammtes Gesicht ab, Polly.«
    Langsam, träumerisch holte sie ein spitzengesäumtes Taschentuch aus ihrer Handtasche und tat es.
    »Das ist gut«, sagte er und stand auf. »Ich lasse Sie jetzt nach Hause gehen, Polly; Sie haben einiges zu erledigen. Aber ich möchte, daß Sie wissen, daß es mir ein großes Vergnügen bereitet hat, mit Ihnen ein Geschäft zu machen. Ich habe gern mit Damen zu tun, die stolz sind auf sich selbst.«

12
     
    »Hallo, Brian, willst du einen Trick sehen?«
    Der Junge auf dem Fahrrad schaute schnell auf, das blonde Haar flog ihm aus der Stirn, und Alan sah einen unmißverständlichen Ausdruck auf seinem Gesicht: nackte, unverfälschte Angst.
    »Einen Trick?« sagte der Junge mit bebender Stimme. »Was für einen Trick?«
    Alan wußte nicht, wovor der Junge Angst hatte, aber eines begriff er – seine Zauberei, die ihm bei Kindern sonst so oft als Eisbrecher geholfen hatte, war aus irgendeinem Grund in diesem Fall genau das Falsche. Er würde gut daran tun, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und dann von vom anzufangen.
    Er streckte den linken Arm aus – den, an dem er die Uhr trug – und lächelte in Brian Rusks blasses, mißtrauisches, verängstigtes Gesicht. »Du siehst, es steckt nichts in meinem Ärmel, und mein Arm geht bis zur Schulter hinauf. Aber jetzt – presto! «
    Alan ließ die geöffnete rechte Hand langsam an seinem linken Arm heruntergleiten und schnippte dabei mühelos das kleine Päckchen mit dem rechten Daumen unter dem Uhrarmband hervor. Als er die Faust schloß, löste er die fast mikroskopisch kleine Schlinge, die das Päckchen zusammenhielt. Er legte die linke Hand auf die rechte, und als er sie wieder voneinander löste, erblühte da, wo einen Moment zuvor nur Luft gewesen war, ein großer Strauß aus bunten Seidenpapierblumen.
    Alan hatte diesen Trick schon Hunderte von Malen vorgeführt und niemals besser als an diesem warmen Oktobernachmittag, aber die erwartete Reaktion – ein Augenblick der Verblüffung, gefolgt von einem Grinsen, das zu einem Teil aus Erstaunen und zu zwei Teilen aus Bewunderung bestand – blieb aus. Der Junge warf einen flüchtigen Blick auf den Blumenstrauß (in diesem kurzen Hinsehen schien Erleichterung zu stecken, als wäre er auf einen weit weniger erfreulichen Trick gefaßt gewesen), dann richteten sich seine Augen wieder auf Alans Gesicht.
    »Ganz hübsch, nicht?« fragte Alan. Er verzog das Gesicht zu einem breiten Lächeln, von dem er das Gefühl hatte, daß es ungefähr so echt war wie das Gebiß seines Großvaters.
    »Ja«, sagte Brian.
    »Ich kann sehen, wie hingerissen du bist.« Alan brachte seine Hände zusammen und faltete den Blumenstrauß geschickt wieder zusammen. Es ging leicht – zu leicht. Offenbar wurde es Zeit, ein neues Exemplar dieses Tricks zu kaufen; er hatte nur eine begrenzte Lebensdauer. Die winzige Feder in diesem hier war ausgeleiert, und das leuchtendbunte Papier würde bald reißen.
    Er öffnete die Hände wieder und lächelte jetzt etwas hoffnungsvoller. Der Blumenstrauß war verschwunden, war wieder nur ein kleines Päckchen unter seinem Uhrarmband. Brian Rusk erwiderte sein Lächeln nicht; sein Gesicht blieb ausdruckslos. Die Überreste seiner Sommerbräune konnten weder die Blässe darunter verbergen noch die Tatsache, daß sich seine Haut in einem ungewöhnlichen Zustand präpubertären Aufruhrs befand: eine Reihe von Pickeln auf der Stirn, ein größerer am Mundwinkel, Mitesser an beiden Seiten der Nase. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, als wäre es eine ganze Weile her, seit er das letzte Mal gut geschlafen hatte.
    Mit diesem Jungen stimmt etwas nicht, dachte Alan. Da ist etwas heftig gezerrt, vielleicht sogar gebrochen. Zwei Vermutungen lagen nahe: entweder hatte Brian

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