In einer kleinen Stad
und wählte Pollys Nummer.
»Hallo?« sagte sie, und er wußte sofort, daß er ihr nichts von der Depression erzählen würde, die ihn überfallen hatte. Heute abend hatte Polly ihre eigenen Probleme. Schon an dem einen Wort, das sie gesagt hatte, erkannte er, wie es um sie stand. Die beiden l in Hallo waren leicht verschliffen. Das passierte nur, wenn sie ein Percodan genommen hatte – vielleicht auch mehr als nur eines. Percodan nahm sie nur, wenn die Schmerzen sehr stark waren. Obwohl sie es nie ausgesprochen hatte, konnte Alan sich vorstellen, daß sie mit Grausen dem Tag entgegensah, an dem auch Percodan nicht mehr helfen würde.
»Wie geht es dir, meine Hübsche?« fragte er, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte eine Hand über die Augen. Das Aspirin schien gegen sein Kopfweh nicht viel auszurichten. Vielleicht sollte ich sie um ein Percodan bitten, dachte er.
»Alles in bester Ordnung.« Er hörte, wie vorsichtig sie sprach, sich von einem Wort zum anderen bewegte wie eine Frau, die Trittsteine benutzt, um einen Bach zu überqueren. »Wie steht es bei dir? Du hörst dich müde an.«
»Das bin ich immer, wenn ich mit Anwälten zu tun gehabt habe.« Er schob den Gedanken, sie zu besuchen, beiseite. Sie würde sagen: Aber natürlich, Alan, und sie würde sich freuen, ihn zu sehen – fast so sehr, wie er sich freuen würde, sie zu sehen. Aber die Belastung würde für sie größer sein, als sie an diesem Abend verkraften konnte. »Ich glaube, ich gehe nach Hause und lege mich zeitig hin. Es macht dir doch nichts aus, wenn ich nicht mehr vorbeikomme?«
»Nein, Liebling. Vielleicht wäre es sogar ein wenig besser, wenn du nicht kämest.«
»Ist es schlimm heute abend?«
»Es war schon schlimmer«, sagte sie vorsichtig.
»Das beantwortet meine Frage nicht.«
»Nun, nicht allzu schlimm.«
Deine Stimme verrät, daß du mich anlügst, meine Liebe, dachte er.
»Gut. Wie steht es mit dieser Ultraschall-Therapie, von der du mir erzählst hast? Hast du darüber etwas erfahren?«
»Nun, es wäre schon gut, wenn ich mir anderthalb Monate in der Mayo-Klinik leisten könnte, aber ich kann es nicht. Und behaupte nicht, du könntest es, Alan, denn ich bin ein bißchen zu müde, um dich einen Lügner zu nennen.«
»Ich dachte, du hättest etwas vom Boston Hospital gesagt...«
»Nächstes Jahr«, sagte Polly. »Im nächsten Jahr soll dort eine Abteilung für Ultraschall-Therapie eingerichtet werden. Vielleicht.«
Es trat eine kurze Pause ein, und er wollte sich gerade verabschieden, als sie weitersprach. Jetzt war ihre Stimme ein wenig klarer. »Ich habe heute morgen in den neuen Laden hineingeschaut. Ich hatte von Nettie eine Torte backen lassen und habe sie mitgenommen. Was sich natürlich ganz und gar nicht gehörte – Damen überreichen bei einer Ladeneröffnung keine Backwaren. Das ist praktisch in Stein eingemeißelt.«
»Wie sieht er aus? Was wird dort angeboten?«
»Von allem etwas. Wenn du mir den Revolver auf die Brust setzen würdest, würde ich sagen, es ist ein Kuriositäten- und Raritätenladen, aber im Grunde entzieht er sich jeder Beschreibung. Du mußt ihn dir selbst ansehen.«
»Hast du den Besitzer kennengelernt?«
»Mr. Leland Gaunt aus Akron, Ohio«, sagte Polly, und jetzt konnte Alan tatsächlich den Anflug eines Lächelns in ihrer Stimme hören. »Die elegante Damenwelt von Castle Rock wird ihm zu Füßen liegen – das zumindest ist meine Vermutung.«
»Welchen Eindruck hattest du von ihm?«
Als sie weitersprach, war das Lächeln in ihrer Stimme noch deutlicher zu hören. »Also, Alan, um ganz ehrlich zu sein – ich liebe dich, und ich hoffe, du liebst mich, aber...«
»Das tue ich«, sagte er. Sein Kopfweh ließ ein wenig nach. Er glaubte nicht, daß es Norris Ridgewicks Aspirin war, das dieses kleine Wunder bewirkte.
»... aber mein Herz hat etliche Takte zugelegt. Und du hättest Rosalie und Nettie sehen müssen, als sie wiederkamen...«
»Nettie!« Er nahm die Füße vom Schreibtisch und setzte sich auf. »Nettie hat doch Angst vor ihrem eigenen Schatten!«
»Stimmt. Aber da Rosalie sie überredet hatte, mit ihr hinzugehen – du weißt ja, daß sich das arme Mädchen nicht getraut, allein irgendwohin zu gehen -, habe ich, als ich heute nachmittag nach Hause kam, Nettie gefragt, was sie von Mr. Gaunt hielte. Alan, ihre trüben alten Augen leuchteten regelrecht auf. >Er hat Buntglas!<, sagte sie, ›wunderschönes Buntglas! Er hat mich sogar eingeladen, morgen
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