In einer kleinen Stad
vielleicht. Aber vielleicht auch nicht. Erwachsene dachten anders als normale Leute. Außerdem hatte er die Karte, oder etwa nicht? Und sie steckte in seinem Ringbinder, genau da, wo sie hingehörte, oder etwa nicht?
Die Antwort auf beide Fragen lautete ja, und so ließ Brian die ganze Geschichte auf sich beruhen und versank wieder in Schlaf, während der Regen gegen sein Fenster peitschte und der rastlose Herbstwind in den Nischen unter der Dachtraufe heulte.
Viertes Kapitel
1
Der Regen hatte am Donnerstag bei Tagesanbruch aufgehört, und um halb elf, als Polly aus dem Vorderfenster von You Sew and Sew hinausschaute und Nettie Cobb sah, begannen die Wolken aufzubrechen. Nettie hatte einen zusammengerollten Regenschirm bei sich und trippelte, die Handtasche unter den Arm geklemmt, die Main Street entlang, als fürchtete sie, daß gleich hinter ihr irgendein neues Unwetter das Maul aufreißen könnte.
»Wie geht es deinen Händen heute morgen, Polly?« fragte Rosalie Drake.
Polly seufzte innerlich. Die gleiche Frage, nur eindringlicher gestellt, würde sie Alan am Nachmittag beantworten müssen – sie hatte versprochen, sich gegen drei mit ihm zum Kaffee in Nan’s Luncheonette zu treffen. Leuten, die einen schon seit langem kannten, konnte man nichts vormachen. Sie sahen die Blässe auf deinem Gesicht und die dunklen Ringe unter deinen Augen. Und was noch wichtiger war – sie sahen den gequälten Ausdruck in den Augen.
»Viel besser heute, danke«, sagte sie.
Das war mehr als nur ein bißchen übertrieben; es ging besser, aber viel besser?
»Ich dachte, bei dem Regen und alledem...«
»Was die Schmerzen auslöst, läßt sich nie absehen. Das ist das Gemeine daran. Aber lassen wir das. Komm schnell her, Rosalie, und sieh aus dem Fenster. Ich glaube, wir erleben ein kleines Wunder.«
Rosalie gesellte sich gerade noch rechtzeitig zu Polly, um zu sehen, wie sich die kleine, trippelnde Gestalt mit dem Regenschirm – nach der Art zu schließen, wie sie ihn hielt, hatte sie vielleicht vor, ihn als Schlagstock zu benutzen – der Markise von Needful Things näherte.
»Ist das wirklich Nettie?« fragte Rosalie fast keuchend.
»Sie ist es wirklich.«
»Mein Gott, sie geht hinein!«
Aber einen Moment lang schien es, als hätte Rosalies Vorhersage dem Vorhaben einen Riegel vorgeschoben. Nettie näherte sich der Tür – dann wich sie zurück. Sie ließ den Schirm von einer Hand in die andere wandern und betrachtete die Ladentür von Needful Things, als lauere dahinter eine Schlange, die sie beißen könnte.
»Los, Nettie«, sagte Polly leise. »Nun geh schon, Mädchen!«
»Wahrscheinlich hängt das GESCHLOSSEN-Schild an der Tür«, sagte Rosalie.
»Nein, er hat jetzt ein anderes, auf dem steht DIENSTAGS UND DONNERSTAGS NUR AUF VERABREDUNG. Ich habe es gesehen, als ich heute morgen vorbeikam.«
Nettie näherte sich abermals der Tür. Sie griff nach dem Knauf, dann wich sie wieder zurück.
»Gott, das haut mich vom Stuhl«, sagte Rosalie. »Sie sagte, sie würde vielleicht noch einmal hingehen, und ich weiß, wie versessen sie auf Buntglas ist; aber ich hätte nie gedacht, daß sie es wirklich tun würde.«
»Sie hat mich gefragt, ob ich etwas dagegen hätte, wenn sie das Haus in ihrer Pause verließe, um in den neuen Laden hinüberzugehen und meinen Tortenbehälter abzuholen«, murmelte Polly.
Rosalie nickte. »Unsere Nettie, wie sie leibt und lebt. Früher hat sie mich sogar um Erlaubnis gefragt, wenn sie auf die Toilette mußte.«
»Ich hatte den Eindruck, als hoffte ein Teil von ihr, daß ich sagen würde, nein, es ist zuviel zu tun. Aber ich glaube, ein anderer Teil von ihr hoffte gleichzeitig, daß ich ja sagte.«
Pollys Augen beobachteten unverwandt den heftigen Kampf, der weniger als vierzig Meter entfernt tobte, ein Kleinkrieg zwischen Nettie Cobb und Nettie Cobb. Wenn sie tatsächlich hineinging – was für ein gewaltiger Schritt nach vorn würde das für sie sein!
Polly spürte einen dumpfen, heißen Schmerz in ihren Händen, schaute hinunter und sah, daß sie sie ineinander verkrampft hatte. Sie zwang sich, sie locker hängen zu lassen.
»Es ist nicht der Tortenbehälter und auch nicht das Buntglas«, sagte Rosalie. »Er ist es.«
Polly warf ihr einen fragenden Blick zu.
Rosalie lachte und errötete ein wenig. »Oh, ich meine nicht, daß Nettie sich in ihn verliebt hat oder etwas dergleichen, auch wenn sie etwas verträumt aussah, als ich sie draußen einholte. Er war nett zu
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