In einer Person
ungefährlicher ? Ich
dachte, Miss Frost wolle mich nur wegen des Altersunterschieds warnen;
vielleicht durfte ihrer Meinung nach ein Achtzehnjähriger nichts mit einer über
Vierzigjährigen haben. Immerhin war ich juristisch volljährig, wenn auch noch nicht lange. Und wenn Miss Frost tatsächlich
ungefähr im Alter meiner Tante Muriel war, musste sie zwei- oder dreiundvierzig
sein.
»Gleichaltrige Mädchen interessieren mich nicht«, versicherte ich
Miss Frost. »Anscheinend fühle ich mich zu älteren Frauen hingezogen.«
»Mein lieber Junge«, bekam ich wieder von ihr zu hören. »Nicht auf
mein Alter kommt es an – sondern darauf, was ich bin.
William, du weißt nicht, was ich bin, oder?«
Als wäre diese existenziell wichtige Frage nicht schon verwirrend
genug, wählte Atkins genau diesen Moment, [298] um den schummerigen
Eingangsbereich der Bücherei zu betreten, wo er verschreckt zusammenfuhr.
(Später erzählte er mir, er habe sich über seinen eigenen Anblick im Spiegel
erschreckt, der wie ein stummer Wächter gegenüber der Eingangstür hing.)
»Ach du bist’s, Tom«, stellte Miss Frost
ohne jede Überraschung fest.
»Sehen Sie? Was hab ich Ihnen gesagt?«, fragte ich Miss Frost,
während Atkins sich immer noch erschrocken im Spiegel beäugte.
»Wie unrecht du doch hast«, erklärte mir
Miss Frost lächelnd.
»Kittredge sucht dich, Bill«, sagte Atkins. »Ich war im
Jahrbuchraum, aber jemand hat gesagt, du wärst gerade gegangen.«
»Im Jahrbuchraum«, wiederholte Miss Frost; es klang überrascht. Ich
sah sie an – sie wirkte ungewohnt beunruhigt.
»Bill studiert sämtliche Favorite-River-Jahrbücher, von damals bis
heute«, informierte Atkins Miss Frost. »Elaine hat es mir gesagt«, erklärte er
mir.
»Meine Güte, Atkins – das hört sich ja an, als wolltest du mich
studieren«, sagte ich ihm.
»Kittredge will dich sprechen«, erwiderte er eingeschnappt.
»Seit wann bist du sein Botenjunge?«, fragte ich ihn.
Da warf Atkins die schmalen Hände in die Luft. »Jetzt reicht’s mir
aber mit Beleidigungen für heute Abend!«, rief er theatralisch. »Mich von
Kittredge kränken lassen ist eine Sache – der kränkt ja jeden. Aber auch noch
von dir [299] beleidigt zu werden, Bill – also das geht
nun wirklich zu weit!«
Sichtlich bemüht, die Stadtbücherei von First Sister mit großer
Geste zu verlassen, blieb Atkins erneut vor dem perfiden Spiegel im
Eingangsbereich stehen, um seine letzte Kugel abzufeuern. »Ich bin nicht dein Schatten, Bill – und verwechsel mich bitte nicht mit
Kittredge!«, sagte er.
Und weg war er, noch ehe ich »Scheiß auf Kittredge« sagen konnte.
»Bitte keine unflätigen Ausdrücke, William«, sagte Miss Frost und
legte mir ihre langen Finger auf die Lippen. »Schließlich sind wir immer noch
in einer Scheiß- Bibliothek. «
Das Wort Scheiße schien mir so gar nicht
zu ihr zu passen, ebenso wenig, wie ich sie mir als eine Alberta vorstellen konnte;
aber dann sah ich, dass sie lächelte. Sie zog mich nur auf; jetzt strichen ihre
langen Finger über meine Wange.
»Wie merkwürdig, dass Atkins das Wort Schatten verwendet hat, William«, sagte sie. »Dabei handelt es sich doch nicht etwa um
das unaussprechliche Wort, das an deinem plötzlichen Ausstieg aus König Lear schuld ist?«
»Doch«, antwortete ich ihr. »Sie haben also davon gehört. In dieser
Kleinstadt kriegt offenbar jeder alles mit!«
»Vielleicht nicht unbedingt jeder – und vielleicht nicht ganz alles,
William«, sagte Miss Frost. »Zum Beispiel kommt es mir so vor, als hättest du noch nicht alles mitgekriegt – über mich, meine ich.«
Ich wusste nur, dass Nana Victoria Miss Frost nicht mochte, aber
nicht, warum. Und dass Tante Muriel Probleme mit Miss Frosts BH -Wahl hatte; aber wie konnte ich [300] das Teenager- BH -Thema ansprechen, wo ich doch eben erst meine Liebe zu allem an Miss Frost gestanden hatte?
»Meine Großmutter«, fing ich an, »und meine Tante Muriel –«
Aber Miss Frost tippte mir wieder mit ihren langen Fingern sanft auf
die Lippen. » Psst, William«, flüsterte sie. »Ich
brauch mir nicht anzuhören, was diese Damen von mir halten. Viel mehr
interessiert mich dein Forschungsprojekt in dem alten Jahrbuchraum.«
»Ach, das ist kein richtiges Projekt«, erzählte ich ihr. »Ich schau
mir hauptsächlich die Fotos vom Ringerteam an – und die Fotos von den Stücken,
die der Theaterclub aufgeführt hat.«
»Ach wirklich ?«, fragte Miss Frost ein
wenig
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