In einer Person
können wir darüber flüstern«, flüsterte sie.
»Kennen Sie Jacques Kittredge?«, fragte ich.
»Jeder kennt Kittredge«, sagte Miss Frost nüchtern; ihre Miene
verriet nicht, was sie von ihm hielt.
»Ich bin in Kittredge verknallt, versuche aber, es zu unterdrücken«,
sagte ich ihr. »Gibt es darüber einen Roman?«
Miss Frost legte mir beide Hände auf die Schultern. Ich wusste, dass
sie mein Zittern spürte. »Ach, William – weißt du, es gibt Schlimmeres«, sagte
sie. »Ja, ich habe genau den Roman, den du lesen solltest«, flüsterte sie.
»Ich weiß, warum Atkins herkommt«, stieß ich hervor. [295] »Nicht, um
mich zu suchen – bestimmt ist er in Sie verknallt!«
»Warum das denn?«, fragte Miss Frost.
»Warum nicht ? Ist denn nicht jeder Junge in Sie verknallt?«, fragte ich sie.
»Tja, in mich war schon ziemlich lange niemand mehr verknallt«,
sagte sie. »Aber es schmeichelt mir sehr – wie lieb von dir, das zu sagen,
William.«
» Ich bin in Sie verknallt«, erklärte ich.
»Schon immer, und zwar noch mehr als in Kittredge.«
»Mein lieber Junge, wenn du dich da mal
nicht täuschst!«, verkündete Miss Frost. »Hab ich dir nicht gesagt, dass es
Schlimmeres gibt, als in Jacques Kittredge verknallt zu sein? Hör gut zu,
William: in Kittredge verknallt sein ist ungefährlicher !«
»Wie kann Kittredge ungefährlicher sein als Sie?«, rief ich. Ich
spürte, dass ich wieder zu zittern anfing. Als Miss Frost mir diesmal ihre
großen Hände auf die Schultern legte, zog sie mich an ihre breite Brust. Da
fing ich plötzlich an zu schluchzen.
Ich verachtete mich selbst, weil ich weinte, konnte aber nicht damit
aufhören. In einer dieser schauderhaften Morgenversammlungen hatte Dr. Harlow
uns gewarnt, maßloses Weinen würde bei Jungen auf homosexuelle Tendenzen
hindeuten, gegen die wir uns wappnen sollten. (Natürlich verriet uns der
Schwachkopf nie, wie wir uns gegen etwas wappnen
sollten, das wir nicht bändigen konnten!) Und ich hatte meine Mutter zu Muriel
sagen hören: »Mir ist ein Rätsel, was ich machen soll, wenn Billy wie ein Mädchen weint!«
[296] Da stand ich also in der Stadtbücherei von First Sister und
schluchzte wie ein Mädchen in Miss Frosts starken Armen – nachdem ich ihr
soeben gebeichtet hatte, dass ich in sie noch mehr als in Jacques Kittredge
verknallt war. Für was für eine Heulsuse sie mich halten musste!
»Mein lieber Junge, du kennst mich nicht richtig«, hörte ich sie
sagen. »Du weißt nicht, wer ich bin – du weißt gar nichts über mich, oder?
William? Das stimmt doch, oder etwa nicht?«
» Was weiß ich nicht?«, flennte ich. »Ihren
Vornamen weiß ich nicht«, gab ich zu, immer noch schluchzend. Ich umarmte sie
auch, aber nicht so fest wie sie mich. Dabei spürte ich erneut, wie stark sie
war und wie verhältnismäßig klein ihre Brüste waren – und wie weich; für mich
standen ihre kleinen weichen Brüste in krassem Gegensatz zu ihren breiten
Schultern und muskulösen Armen.
»Ich meine nicht meinen Namen, William –
mein Vorname tut nichts zur Sache«, sagte Miss Frost. »Ich meine, du kennst mich nicht.«
»Aber wie heißen Sie mit Vornamen?«, fragte ich.
Miss Frosts Seufzen hatte etwas Dramatisches – wie sie mich aus
ihrer Umarmung entließ, um nicht zu sagen wegschob, wirkte fast ein wenig
theatralisch.
»Für mich hängt sehr viel daran, Miss Frost zu sein, William«, sagte sie. »Die Anrede Miss hab ich mir nicht mal rasch so nebenbei zugelegt.«
Davon, wie es war, wenn einem sein Taufname nicht gefiel, konnte ich
ein Lied singen, denn mir hatte es nie gefallen, William Francis Dean jr. zu
sein. » Mögen Sie Ihren Vornamen nicht?«, fragte ich
sie.
[297] »Sagen wir so«, erwiderte sie belustigt. »Würdest du je einem
Mädchen den Namen Alberta geben?«
»Wie die kanadische Provinz?«, fragte ich. Ich konnte mir Miss Frost
unmöglich als eine Alberta vorstellen!
»Als Name für eine Provinz taugt es schon eher«, sagte Miss Frost.
»Alle haben immer nur Al zu mir gesagt.«
»Al«, wiederholte ich.
»Du siehst, warum ich so viel Wert auf das Miss lege«, sagte sie lachend.
»Ich liebe alles an Ihnen«, erklärte ich ihr.
»Immer langsam, William«, sagte Miss Frost. »Stürz dich nicht Hals
über Kopf in Schwärmereien für die Falschen.«
Natürlich verstand ich nicht, warum sie sich zu denen zählte, die
»falsch« für mich waren – und wie kam sie bloß auf den Gedanken, meine
Schwärmerei für Kittredge sei
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