In einer Person
Lear.
Relativ früh im Stück (erster Aufzug, vierte Szene) brüllt
Bob-als-Lear: »Wer kann mir sagen, wer ich bin?« Wer könnte je vergessen, was
Lears Narr dem König antwortet? Nur ich konnte es; ich vergaß, dass ich
überhaupt dran war. »›Wer kann mir sagen, wer ich bin ¨ , Bill ?«, hakte Richard Abbott nach.
»Dein Text, Nymphe«, flüsterte Kittredge mir zu. »Ich hab mir schon
fast gedacht, dass du damit deine Problemchen haben könntest.« Alle warteten,
bis mir der Text des Narren einfiel. Zu Anfang war mir das Ausspracheproblem
nicht einmal bewusst; meine Schwierigkeiten mit diesem Wort waren so neu, dass
sie weder mir selbst noch Martha Hadley aufgefallen waren. Nur Kittredge hatte [289] offensichtlich
das potentiell Unaussprechliche bemerkt. »Lass hören, Nymphe«, stichelte er.
»Wenigstens, wie du es versuchst. «
»Wer kann mir sagen, wer ich bin?«, fragt Lear.
Der Narr erwidert: »Lears Schatten.«
Seit wann machte mir das Wort Schatten irgendwelchen Kummer bei der Aussprache? Seit Elaine von ihrer Europareise mit
Mrs. Kittredge zurückgekehrt war und auf mich so wesenlos wie ein Schatten
gewirkt hatte – jedenfalls im Vergleich zu ihrem früheren Selbst. Seit Elaine
aus Europa zurückgekehrt war und ein fremder Schatten ihr auf Schritt und Tritt
zu folgen schien – ein Schatten, der eine gespenstische, aber subtile
Ähnlichkeit mit ebenjener Mrs. Kittredge hatte. Als Elaine dann erneut
fortgegangen war, diesmal nach Northfield, ließ sie einen Schatten zurück, der
sich an meine Fersen heftete – vielleicht der
verstörende, ungerächte Schatten meiner abwesenden besten Freundin.
»Lears… Schaden«, sagte ich.
»Sein Schaden !«, rief Kittredge aus.
»Versuch’s noch mal, Bill«, sagte Richard.
»Ich kann’s nicht sagen«, gab ich zurück.
»Vielleicht brauchen wir einen neuen Narren«, schlug Kittredge vor.
»Das ist immer noch meine Entscheidung, Kittredge«, wies ihn Richard
zurecht.
»Oder meine«, sagte ich.
»Ach ja –«, fing Grandpa Harry an, wurde aber von Onkel Bob
unterbrochen.
»Wie wäre es, Richard, wenn Billy stattdessen ›Lears [290] Spiegelbild ‹ sagt oder sogar ›Lears Geist ¨ – natürlich nur, wenn das deiner Ansicht nach dem entspricht, was der Narr
meint oder sagen will«, brachte Onkel Bob vor.
»Dann wäre es nicht Shakespeare«, stellte Kittredge fest.
»Im Textbuch steht ›Lears Schatten ¨ ,
Billy«, sagte meine Mutter, die Souffleuse. »Entweder kannst du es sagen oder
nicht.«
»Bitte, Jewel –«, setzte Richard an, wurde aber von mir
unterbrochen.
»Lear verdient einen anständigen Narren – einen, der alles sagen
kann«, erklärte ich Richard Abbott. Als ich ging, wusste ich, dass ich meine
letzte Probe als Schüler der Favorite River Academy hinter mir ließ –
vielleicht sogar mein letztes Shakespeare-Stück. (Erst später stellte sich
heraus, dass König Lear mein letztes
Shakespeare-Stück als Schauspieler bleiben sollte.)
Die Lehrertochter, der Richard die Rolle der Cordelia anvertraute,
war mir damals wie heute so egal, dass ich mich nicht einmal mehr an ihren
Namen erinnere. »Ein unfertiges junges Ding, aber mit Spitzengedächtnis«, hatte
Grandpa Harry über sie gesagt.
»Weder eine gegenwärtige noch eine zukünftige Schönheit«, sagte
meine Tante Muriel, als wollte sie damit unterstellen, dass niemand die
todgeweihte Cordelia in König Lear heiraten würde –
nicht einmal, wenn sie überlebt hätte.
Delacorte sollte Lears Narr spielen. Da Delacorte Ringer war, musste
er durch Kittredge von der frei gewordenen Rolle erfahren haben. Später
vertraute Kittredge mir an, dass Delacorte nicht unter den üblichen
Komplikationen [291] infolge seiner selbstauferlegten Gewichtsreduktion zu leiden
hatte, weil das Herbst-Shakespeare-Stück vor dem Start in die Ringersaison
geprobt und aufgeführt wurde. Trotzdem litt das Leichtgewicht, das laut
Kittredge in einer höheren Gewichtsklasse hoffnungslos untergegangen wäre,
immer noch unter Mundtrockenheit, selbst wenn er nicht dehydriert war – doch
vielleicht träumte Delacorte auch außerhalb der Saison vom Abnehmen. Wäre
Delacorte heute noch am Leben, würde er sich garantiert immer noch mit den
Fingern durchs Haar fahren. Aber Delacorte ist tot, wie so viele andere. Mir
sollte beschieden sein, ihn sterben zu sehen.
Als Lears Narr sollte Delacorte die weisen Worte sprechen: »Halt,
was du verheiß’st, / Verschweig, was du weißt, / Hab mehr, als du leihst.«
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