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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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geistesabwesend. Warum kam es mir so vor, als schauspielerte sie – mal
mehr, mal weniger? Was hatte sie damals gesagt, als Richard Abbott sie gefragt
hatte, ob sie je auf der Bühne gestanden hätte – als Schauspielerin ?
    »Nur in Gedanken«, hatte sie beinahe kokett geantwortet. »Als ich
jünger war – ständig.«
    »Und bis zu welchem Jahr bist du inzwischen vorgedrungen, William –
bis zu welchem Abschlussjahrgang?«, erkundigte sich Miss Frost.
    »Neunzehnhunderteinunddreißig«, antwortete ich. Ihre Finger waren
von meinen Lippen weitergewandert; sie berührte meinen Hemdkragen, fast als
zöge sie etwas an dem Hemd mit Button-down-Kragen an – vielleicht wurde sie
sentimental.
    »Du bist so nah dran«, sagte sie.
    »Nah an was ?«
    [301]  »Einfach nur nah«, sagte sie. »Wir haben nicht viel Zeit.«
    »Macht die Bücherei bald zu?«, fragte ich, aber Miss Frost lächelte
nur; dann schaute sie auf ihre Uhr.
    »Ach, was ist schon dabei, heute Abend ein wenig früher zu
schließen?«, sagte sie plötzlich.
    »Klar – warum nicht?«, entgegnete ich. »Außer uns ist ja keiner da.
Und ich glaub nicht, dass Atkins wiederkommt.«
    »Armer Tom«, sagte Miss Frost. »Er ist nicht in mich verknallt, William – Tom Atkins ist in dich verknallt!«
    Kaum hatte sie es ausgesprochen, wusste ich, dass es stimmte. »Der
arme Tom«, wie ich ihn künftig in Gedanken immer nennen würde, spürte
wahrscheinlich, dass ich in Miss Frost verknallt war; er muss eifersüchtig auf
sie gewesen sein.
    »Der arme Tom spioniert mir und dir nur
nach«, erläuterte mir Miss Frost. »Und worüber will Kittredge mit dir
sprechen?«, fragte sie mich unvermittelt.
    »Ach, gar nichts – es geht nur um Deutsch. Ich helfe Kittredge mit
seinem Deutsch«, erklärte ich.
    »Tom Atkins wäre für dich die ungefährlichere Wahl als Jacques
Kittredge, William«, sagte Miss Frost. Ich wusste, dass sie auch damit recht
hatte, obwohl ich Atkins nicht attraktiv fand – höchstens so, wie jemand, der
einen anhimmelt, nach und nach ein bisschen attraktiv
für einen werden kann. (Aber daraus wird so gut wie nie etwas.)
    Als ich jedoch anfing, Miss Frost zu erklären, dass ich mich nicht
unbedingt zu Atkins hingezogen fühlte – dass ich nicht alle Jungs attraktiv fand, sondern eigentlich nur sehr wenige –, da verschloss sie
mir den Mund mit ihren [302]  Lippen. Sie küsste mich ganz einfach. Es war ein
ziemlich fester Kuss, geradezu aggressiv; doch nur ein einziges Mal verlieh sie
ihm mit ihrer warmen Zunge Nachdruck. Mit meinen bald siebzig Jahren blicke ich
auf ein langes, kusserfülltes Leben zurück. Sie können mir glauben: Dieser Kuss
war forscher als jeder männliche Handschlag.
    »Ich weiß, ich weiß«, murmelte sie an meinen Lippen. »Wir haben so
wenig Zeit – lass uns nicht über den armen Tom reden.«
    »Oh!«
    Ich folgte ihr in den Eingangsbereich, immer noch in der Annahme,
ihre Sorgen wegen der »Zeit« hätten nur mit den Öffnungszeiten der Bücherei zu
tun, aber Miss Frost sagte: »Bestimmt müssen die älteren Schüler immer noch um
zehn Uhr zurück sein, William – außer am Samstagabend, wo man bis um elf
draußen sein darf. An dieser scheußlichen Schule ändert sich doch nie was!«
    Ich war beeindruckt, dass Miss Frost sogar von den Ausgangszeiten
der Favorite River Academy wusste – erst recht, dass sie sie korrekt im Kopf
hatte.
    Ich sah zu, wie sie die Tür zur Bücherei abschloss und die
Außenbeleuchtung löschte; das schwache Licht im Eingangsbereich ließ sie an,
während sie durch die einzelnen Räume ging und überall die Lampen ausknipste.
Ich hatte ganz vergessen, dass ich sie um Rat gebeten und nach einem Buch zu
dem Thema meiner Schwärmerei für Kittredge, die ich zu »unterdrücken«
versuchte, gefragt hatte, als sie mir einen schmalen Roman in die Hand drückte.
Er war nur etwa fünfundvierzig Seiten länger als König Lear, zufällig das Buch, das ich zuletzt gelesen hatte.
    [303]  Es war ein Roman von James Baldwin, Giovannis
Zimmer – den Titel konnte ich kaum entziffern, denn nur der Eingangsbereich
der Bücherei war noch beleuchtet – wenn auch so spärlich, dass wir kaum den Weg
zur Kellertreppe fanden.
    Auf den Stufen zum Heizkeller fiel mir plötzlich ein, dass ich die
selbstsichere Bibliothekarin noch wegen eines anderen Buches um Rat fragen wollte.
    Der Name Al lag mir auf der Zunge, aber
ich konnte mich nicht überwinden, ihn auszusprechen. Stattdessen fragte ich:
»Miss Frost, was

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