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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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können Sie mir über Madame Bovary sagen? Glauben Sie, das würde mir gefallen?«
    »Wenn du älter bist, William, wird es dir ausnehmend gut gefallen.«
    »Das hat Richard auch so in etwa gesagt, und Onkel Bob«, berichtete
ich ihr.
    »Dein Onkel Bob will Madame Bovary gelesen
haben? Du kannst doch unmöglich Muriels Bob meinen,
oder?«, rief Miss Frost.
    »Bob hat es nicht gelesen – er hat mir nur erzählt, worum es darin
geht«, erklärte ich ihr.
    »Jemand, der einen Roman nicht gelesen hat, kann gar nicht wissen,
worum es darin geht, William.«
    »Oh!«
    »Warte damit noch ein Weilchen, William«, sagte Miss Frost. »Die
Zeit für Madame Bovary ist gekommen, wenn all deine
Liebeshoffnungen und Sehnsüchte dahin sind und du glaubst, die Zukunft hielte
nur noch Beziehungen mit enttäuschenden bis vernichtenden Folgen für dich
bereit.«
    [304]  »Dann warte ich mit dem Lesen bis dann«, versicherte ich ihr.
    Ihr Zimmer mit Badausstattung – der ehemalige Kohlenkeller – wurde
nur von einer am Kopfgestänge des altmodischen Messingbetts befestigten
Leselampe beleuchtet. Miss Frost zündete die Kerze mit Zimtaroma auf dem
Nachttischchen an und löschte die Lampe. Bei Kerzenschein verlangte sie von
mir, mich auszuziehen. »Und zwar alles, William – bitte nicht die Socken
anbehalten.«
    Ich gehorchte und kehrte ihr den Rücken zu, weil sie sagte, ich
solle »mal eben wegschauen«; sie benutzte kurz das WC mit der hölzernen Brille (ich glaube, ich hörte sie pinkeln und die Spülung
betätigen), und dem Geräusch fließenden Wassers nach zu urteilen, muss sie sich
an dem kleinen Waschbecken rasch gewaschen und die Zähne geputzt haben.
    Ich lag nackt auf ihrem Messingbett; in dem flackernden Kerzenlicht
las ich, dass Giovannis Zimmer 1956 erschienen war.
Auf der einsteckenden Büchereikarte war vermerkt, dass in vier Jahren nur ein
einziger Nutzer der Stadtbücherei von First Sister den Roman ausgeliehen hatte,
und ich fragte mich, ob der einsame Baldwin-Leser womöglich Miss Frost gewesen
war. Ich war mit den ersten beiden Absätzen noch nicht fertig, da sagte Miss
Frost: »Bitte lies das nicht jetzt, William. Es ist sehr traurig und wird dich
bestimmt aufregen.«
    » Wie aufregen?«, wollte ich wissen. Ich
hörte, wie sie ihre Kleidung in den Wandschrank hing; sie mir nackt
vorzustellen, lenkte mich ab, doch ich las trotzdem weiter.
    »Aus dem Versuch, deine Schwärmerei für Kittredge zu [305]  unterdrücken,
kann gar nichts werden, William. ›Unterdrücken‹ geht nicht«, sagte Miss Frost.
    In dem Moment brachte mich der vorletzte Satz des zweiten Absatzes
ins Stocken; ich schlug einfach das Buch und die Augen zu.
    »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst mit Lesen aufhören?«, sagte
Miss Frost.
    Der Satz begann: »Mein Gegenüber, ein junges Mädchen, das sehr
enttäuscht ist, weil ich nicht mit ihr flirte.« Hier brach ich ab, weil ich
nicht wusste, ob ich mich traute, weiterzulesen.
    »Diesen Roman sollte deine Mutter besser nicht zu sehen bekommen«,
sagte Miss Frost gerade, »und wenn du keine Lust hast, über deine Schwärmerei
für Kittredge zu reden – tja, dann würde ich dir raten, deine Lektüre auch vor
Richard geheim zu halten.« Ich merkte, dass sie sich auf das Bett legte, hinter
mich; ich spürte ihre bloße Haut an meinem Rücken, ich spürte aber auch, dass
sie sich nicht ganz ausgezogen hatte. Sanft umfasste sie meinen Penis mit ihrer
großen Hand.
    »Magst du Tomaten?«, hörte ich Miss Frost sagen.
    »Tomaten?«, fragte ich; mein Penis wurde steif.
    »Tomaten, Stechäpfel und Engelstrompeten sind
Nachtschattengewächse«, fuhr Miss Frost fort. »Kennst du
Nachtschattengewächse?«
    »Das ist eine Pflanzenart, oder?«
    »Es sind sowohl wichtige Nahrungspflanzen als auch Zierpflanzen, die
durch den Gehalt an Alkaloiden und Steroiden auch als bedeutende Medizin-,
Rausch- und Kultpflanzen gelten«, sagte Miss Frost.
    [306]  »Oh!«
    »Sag ›Nachtschattengewächs‹, William.«
    »Nachtschattengewächs«, sagte ich.
    »Jetzt ohne ›Nacht‹ vorn und ›gewächs‹ hinten.«
    »Schatten«, sagte ich, ohne nachzudenken; meine ganze Aufmerksamkeit
galt meinem Penis in ihrer Hand.
    »Wie Lears Schatten?«, fragte sie mich.
    »Lears Schatten«, sagte ich. »In dem Stück wollte ich sowieso nicht
mitspielen«, gestand ich ihr.
    »Na, wenigstens hast du nicht Lears Schatz gesagt«, stellte Miss
Frost fest.
    »Lears Schatten«, wiederholte ich.
    »Und was hab ich da in der Hand?«, fragte
sie

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