Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
immer alle Blicke auf sich, und da war ich nun und
erweckte zumindest den Anschein, ihm gewachsen zu sein!)
    [315]  »Lass dich nicht von ›Demut‹ täuschen,
okay?«, empfahl ich ihm. »Auch wenn es ein kurzes Wort ist, ist es doch
Goethe.«
    »Das ist mir schon klar, Nymphe«, gab Kittredge lächelnd zurück.
»Ich weiß sogar, was es heißt.«
    »Na so was«, sagte ich; ich war überrascht, dass er das Wort
überhaupt kannte, auch auf Englisch. »Denk dran: Was sich wie eine Predigt oder
ein Sprichwort anhört, muss Goethe sein«, instruierte ich ihn.
    »›Das Alter ist ein höflich’ Mann ‹ , solchen
Blödsinn meinst du.« Zu meiner nicht enden wollenden Überraschung wusste
Kittredge selbst hier die Übersetzung und sagte sie mir auf.
    »Eins gibt’s, das wie Rilke klingt, aber Goethe ist«, warnte ich
ihn.
    »Das mit dem Scheiß-Kuss«, sagte Kittredge. »Sag’s auf Deutsch,
Nymphe«, befahl er mir.
    »›Der Kuss, der letzte, grausam süß‹«, sagte ich ihm und dachte dabei an Miss Frosts forsche Küsse. Ich konnte nicht
anders, ich musste mir auch vorstellen, Kittredge zu küssen; wieder begann ich
zu zittern.
    Kittredge übersetzte das letzte Zitat richtig.
    »Stimmt, du könntest auch sagen: ›der allerletzte Kuss‹, wenn du
willst«, verriet ich ihm. »›Die Leidenschaft bringt Leiden!‹«, sagte ich danach
auf, und jedes Wort sprach mir aus der Seele.
    »Scheiß-Goethe!«, rief Kittredge aus. Ich merkte, dass er es nicht
wusste – auch das ließ sich nicht so ohne weiteres raten.
    Da übersetzte ich es ihm.
    [316]  »Und wie«, sagte er. »Massenhaft Leiden.«
    »Hey, ihr da«, meckerte ein Raucher. »Gleich ist Bettruhe.«
    »Scheiße hoch vier«, fluchte Kittredge. Ich wusste, dass er in
Sekundenschnelle über den Innenhof nach Tilley sprinten könnte oder dass er –
spät, wie es war – bei Bedarf garantiert eine geniale Entschuldigung parat
hätte.
    »›Ein jeder Engel ist schrecklich‹«, sagte ich zu ihm, während er
das Kippenzimmer verließ.
    »Rilke, richtig?«, fragte er mich.
    »Ja, klar. Das ist berühmt«, antwortete ich und übersetzte es ihm
gleich.
    Das nagelte Kittredge auf der Schwelle fest. Er warf mir einen Blick
zu, bevor er losrannte, einen Blick, der mir Angst machte, weil ich den
Eindruck hatte, dass ihm vollstes Verständnis, gepaart mit Verachtung, ins
schöne Gesicht geschrieben stand. Mir war, als wüsste Kittredge mit einem Mal
alles über mich – nicht nur, wer ich war und was ich verbarg, sondern auch
alles, was die Zukunft für mich bereithielt. (Mein dräuendes »großes Morgenrot«, wie es bei Rilke hieß.)
    »Du bist ein ganz besonderer Junge, was, Nymphe?«, fragte Kittredge
rasch. Und ohne die Antwort abzuwarten, rannte er los; im Rennen rief er mir
noch zu: »Wetten, jeder einzelne von deinen Scheiß-Engeln wird schrecklich
sein!«
    Ich weiß, es ist nicht ganz das, was Rilke mit »jede[m] Engel«
meinte, doch ich stellte mir Kittredge und Miss Frost, und vielleicht den armen
Tom Atkins – und wer wusste schon, wer mir in Zukunft noch begegnen würde? –,
als meine schrecklichen Engel vor.
    [317]  Was hatte Miss Frost doch gleich gesagt, als sie mir geraten
hatte, noch ein Weilchen mit der Lektüre von Madame Bovary zu warten? Und wenn all meine schrecklichen Engel, an
erster Stelle Miss Frost und Jacques Kittredge (meine künftigen »Beziehungen«,
wie Miss Frost gesagt hatte), mir »enttäuschende bis vernichtende Folgen«
einbrachten, wie sie ebenfalls gesagt hatte?
    »Was ist mit dir, Bill?«, fragte Richard Abbott, als ich unsere
Wohnheimräume betrat. (Meine Mutter war schon im Bett; jedenfalls war die
Schlafzimmertür der beiden, wie so oft, geschlossen.) »Du siehst aus, als wär
dir ein Gespenst begegnet!«, stellte er fest.
    »Kein Gespenst«, erwiderte ich. »Vielleicht nur meine Zukunft.« Und
mit dieser kryptischen Bemerkung ließ ich ihn stehen, ging auf direktem Weg in
mein Zimmer und zog die Tür hinter mir zu.
    Elaines gefütterter BH war da, wo er
immer war – unter meinem Kissen. Lange lag ich da und musterte ihn, ohne allzu
viel von meiner Zukunft erspähen zu können – oder von meinen schrecklichen
Engeln.

[318]  8
    Big Al
    »Was mir an Kittredge am meisten missfällt, ist seine
Grausamkeit«, schrieb ich in jenem Herbst an Elaine.
    »Die wurde ihm vererbt«, schrieb sie zurück. Natürlich hatte ich
Elaines profunden Kenntnissen über Mrs. Kittredge nichts entgegenzusetzen.
Elaine und »diese schreckliche Frau«

Weitere Kostenlose Bücher