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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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dir zu diesem Thema geliehen hat, könntest du ihn
vielleicht mir geben. Ich lese nämlich gern Romane.«
    »Dieser ist von James Baldwin«, ließ ich Atkins wissen.
    »Geht’s darum, dass man in eine schwarze Person verliebt ist?«, fragte Atkins.
    »Nein. Wie kommst du darauf, Tom?«
    »James Baldwin ist doch schwarz, stimmt’s, Bill? Oder handelt es
sich um einen anderen Baldwin?«
    Natürlich war James Baldwin schwarz, doch das wusste ich nicht. Ich
hatte keines seiner anderen Bücher gelesen; ich hatte vorher noch nie von ihm
gehört. Und Giovannis Zimmer war eine
Bibliotheksausgabe, besaß also keinen Schutzumschlag. Ich hatte noch kein Foto
von James Baldwin gesehen.
    »Es ist ein Roman über einen Mann, der sich in einen anderen Mann
verliebt hat«, teilte ich Tom leise mit.
    »Ja«, flüsterte Atkins. »Ich dachte mir schon so etwas, als du eben
›die Falschen‹ erwähnt hast.«
    »Du kannst ihn lesen, wenn ich fertig bin«, sagte ich. Natürlich hatte
ich Giovannis Zimmer schon ausgelesen, wollte es aber
ein zweites Mal lesen und mit Miss Frost darüber reden, ehe ich es an Atkins
weitergab, obwohl ganz sicher nicht drinstand, dass der Erzähler schwarz war –
und der arme Giovanni war Italiener, das wusste ich.
    Ja, ich erinnerte mich sogar an den Satz gegen Ende des Romans –
»mein Körper ist stumpf und weiß und trocken« –, als sich der Erzähler im
Spiegel betrachtet. Doch [325]  ich wollte Giovannis Zimmer einfach sofort noch einmal lesen, weil es mich so tief beeindruckt hatte. Es
war der erste Roman seit Große Erwartungen, den ich
ein zweites Mal lesen wollte.
    Jetzt, wo ich fast siebzig bin, gibt es nur wenige Romane, die mir
bei einer erneuten Lektüre immer noch gefallen – ich
meine damit die Romane, die ich zuerst als Jugendlicher gelesen und gemocht
habe –, doch kürzlich habe ich Große Erwartungen und Giovannis Zimmer wieder gelesen und beide Romane genauso
bewundert wie beim ersten Mal.
    Zugegeben, es gibt Passagen bei Dickens, die einfach zu lang sind.
Doch was soll’s? Und die Transen damals in Paris, als Mr. Baldwin dort wohnte,
waren vermutlich keine besonders vorzeigbaren Transvestiten. Dem Erzähler von Giovannis Zimmer haben sie jedenfalls nicht gefallen. »Mir
war es einfach unverständlich, dass sich überhaupt jemand fand, der mit ihnen ins Bett ging, denn ein Mann, der eine Frau haben
wollte, nahm doch gewiss lieber eine richtige, und ein Mann, der einen Mann
haben wollte, hatte mit dieser Sorte bestimmt nichts im Sinn«, schrieb Baldwin.
    Na gut, vermutlich hat Mr. Baldwin nie einen jener sehr vorzeigbaren Transsexuellen kennengelernt, denen man
heute begegnet, und erst recht keine Donna (eine dieser She-males mit Brüsten und ohne jede Spur von Gesichtsbehaarung, die völlig überzeugend ihre Rolle als Frau spielen). Ich könnte
schwören, dass es bei den heutigen Transsexuellen keinen Funken von
Männlichkeit mehr gibt, von dem voll funktionstüchtigen Penith zwischen ihren Beinen mal abgesehen!
    Vermutlich wollte Mr. Baldwin auch nie einen Geliebten [326]  mit Brüsten und einem Schwanz. Aber ich werfe es James Baldwin
wahrhaftig nicht vor, dass er sich nicht zu den Transen seiner Zeit hingezogen
fühlte – »les folles«, wie er sie nannte.
    Ich sage nur: Wir sollten les folles in
Ruhe lassen; wir sollten sie gewähren lassen. Sie nicht verurteilen. Ihr seid
nicht besser als sie – macht sie also nicht schlecht.
    Als ich kürzlich Giovannis Zimmer zum
zweiten Mal las, fand ich den Roman nicht nur so perfekt, wie er in meiner
Erinnerung war; ich entdeckte auch etwas, was mir mit achtzehn entgangen war,
oder was ich damals zwar gelesen, aber nicht bemerkt hatte. Ich meine die
Stelle, wo Baldwin schreibt, »leider können sich die Menschen ihre Ankerplätze,
ihre Liebhaber und Freunde ebenso wenig aussuchen, wie ihnen die Wahl ihrer
Eltern freisteht«.
    Stimmt, er hat recht. Selbstverständlich habe ich mich mit achtzehn
noch ständig neu orientiert; damit meine ich nicht
nur sexuell. Auch war mir damals noch nicht bewusst, dass ich »Ankerplätze«
brauchte – ganz zu schweigen davon, wie viele ich brauchen würde und wer meine
Ankerplätze sein würden.
    Der arme Tom Atkins brauchte eindeutig einen Ankerplatz, und zwar
dringend. Das stand für mich fest, als Atkins und ich uns über das Thema
Schwärmereien (oder Wärmereien !) für die Falschen unterhielten.
Einen Moment schien es so, als würden wir uns nie von unserem Standort auf der
Treppe des

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