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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Brüste, wo sie ihrer
Meinung nach offenbar hingehörten. Oder vielleicht meinte sie nur, dass meine
Hände unterhalb ihrer Taille nichts verloren hätten – dass ich sie »dort« nicht
anfassen sollte oder durfte.
    Als ich die dunkle Kellertreppe zum schwach erleuchteten Vestibül
der Bücherei hinaufstieg, fiel mir plötzlich eine der selten dämlichen
Ermahnungen Dr. Harlows ein, die er bei einer Morgenversammlung vor einer
Wochenend-Tanzveranstaltung mit einer anreisenden Mädchenschule auf uns
losließ. »Fasst eure Tanzpartnerinnen nie unterhalb der Taille an«, hatte unser
Schularzt auf seine unnachahmliche Art gesagt, »zu ihrem und eurem Besten!«
    Aber das konnte doch gar nicht stimmen,
dachte ich gerade, als Miss Frost mir nachrief: »Geh auf direktem Weg nach
Hause, William – und komm mich bald wieder besuchen!«
    Wir haben so wenig Zeit!, hätte ich beinahe zurückgerufen – eine
gedankliche Vorwegnahme, an die ich mich später, und zwar zeit meines Lebens,
erinnern sollte, obwohl ich es damals nur sagen wollte, um zu sehen, wie sie
darauf reagierte. Schließlich hatte Miss Frost diesen Satz zuerst geäußert.
    Draußen musste ich kurz an Tom Atkins denken – den armen Tom. Ich bereute, dass ich nicht nett zu ihm gewesen war,
obwohl ich jetzt über meine Vorstellung, er könnte in Miss Frost verliebt sein,
schmunzeln musste. Sich die [310]  beiden zusammen vorzustellen, war zu komisch –
Atkins, der ums Verrecken das Wort Zeit nicht sagen
konnte, und Miss Frost, die es alle zwei Minuten anbrachte!
    Ich war achtlos an dem Spiegel in dem düsteren Eingangsbereich
vorbeigegangen, doch später – in der sternenklaren Septembernacht – fiel mir
auf, dass ich mir darin doch plötzlich viel erwachsener vorgekommen war (das heißt,
als vor meiner intimen Begegnung mit Miss Frost). Doch während ich anschließend
die River Street entlang zum Campus von Favorite River ging, gestand ich mir
ein, dass meinem Spiegelbild nicht anzusehen gewesen war, dass ich gerade zum
ersten Mal Sex gehabt hatte.
    Zu diesem Gedanken gesellte sich ein verstörender zweiter – ich
stellte mir nämlich plötzlich vor, ich hätte vielleicht gar keinen Sex gehabt
(jedenfalls keinen richtigen – keine echte
Penetration, meine ich.) Und dann dachte ich: Wie kann ich über die herrlichste
Nacht meines jungen Lebens so was überhaupt nur denken?
    Noch hatte ich keinen blassen Schimmer, dass man ohne richtigen Sex
(oder echte Penetration) die herrlichsten sexuellen Freuden überhaupt erleben
kann – wie sie für mich bis auf den heutigen Tag unübertroffen geblieben sind.
    Aber was wusste ich damals schon? Ich war erst achtzehn; an dem
Abend, als ich mit James Baldwins Giovannis Zimmer in
der Schultasche nach Hause ging, fingen meine Schwärmereien für die Falschen
erst an.
    Der Aufenthaltsraum in Bancroft Hall wurde wie die
Aufenthaltsräume in den anderen Wohnheimen nur das Kippenzimmer genannt; die
älteren Schüler, die rauchten, [311]  durften ihre Lernzeiten dort verbringen. Doch
auch viele ältere Schüler, die nicht rauchten, wollten dieses Privileg nicht
ungenutzt lassen und lernten dort.
    In jenen sorglosen Tagen warnte uns niemand vor den Gefahren des
Passivrauchens – am allerwenigsten unser vertrottelter Schularzt. Ich kann mich
an keine einzige Morgenversammlung erinnern, in der es um die Heimsuchungen des Rauchens gegangen wäre! Dr. Harlow
verwandte all seine Energie und all sein Wissen auf die Behandlung maßlosen
Weinens bei Knaben – im unerschütterlichen Glauben daran, es gäbe eine
Heilmethode gegen die homosexuellen Neigungen der jungen Männer, zu denen wir
heranwuchsen.
    Ich kam eine Viertelstunde vor Ende der Ausgangszeit an; als ich in
den üblichen blaugrauen Dunst im Kippenzimmer von Bancroft trat, packte mich
Kittredge plötzlich von hinten. Ich weiß nicht, welchen Ringergriff er
anwandte. Später versuchte ich ihn Delacorte zu beschreiben – der sich
übrigens, wie ich hörte, als Lears Narr wacker schlug. Zwischen Spülen und
Spucken sagte Delacorte: »Klingt wie eine Armklammer. Mit seinen Armklammern
macht Kittredge jeden fertig.«
    Wie der Ringergriff auch hieß, er tat nicht weh. Ich merkte nur,
dass ich mich nicht befreien konnte, und versuchte es auch erst gar nicht.
Ehrlich gesagt, war es überwältigend, von Kittredge so fest gepackt zu werden,
und das, nachdem ich eben erst in Miss Frosts Armen gelegen hatte.
    »Hallo, Nymphe«, sagte Kittredge. »Wo hast du bloß

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