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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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waren intim genug gewesen, dass sich
Elaine zu dem Thema, welche Gene von Mutter an Sohn weitergegeben wurden, sehr
bestimmt äußern konnte. »Dass sie seine Mom ist, kann Kittredge leugnen, bis er
schwarz wird, Billy, aber ich sage dir, sie gehört zu den Müttern, die ihrem
kleinen Wichser die Brust geben, bis er sich rasiert!«
    »Na schön«, schrieb ich Elaine zurück, »aber woher willst du wissen,
dass Grausamkeit vererblich ist?«
    »Was ist mit Küssen?«, schrieb Elaine zurück. »Die beiden küssen auf
die gleiche Art, Billy. Küssen wird definitiv vererbt.«
    Elaines genetische Abhandlung über Kittredge stand im selben Brief,
in dem sie auch ihre Absicht kundtat, Schriftstellerin zu werden; sogar in
Bezug auf diese gemeinsame Berufung war Elaine mir gegenüber offener als ich zu
ihr. Da ließ ich mich nun auf das langersehnte Abenteuer mit [319]  Miss Frost ein,
doch Elaine hatte ich noch immer kein Wort darüber erzählt!
    Natürlich hatte ich niemandem davon erzählt. Auch widerstand ich der
Versuchung, Giovannis Zimmer weiterzulesen, bis mir
klar wurde, dass ich Miss Frost wiedersehen wollte – und zwar möglichst bald –,
und ich mir einredete, dass ich ihr erst wieder unter die Augen treten wollte,
wenn ich bereit wäre, mit ihr über James Baldwin zu sprechen. Und so tauchte
ich in den Roman ein – allerdings nicht sehr tief, da mich kurz nach Anfang des
zweiten Kapitels ein Satz jäh in meiner Lektüre innehalten ließ. Er führte
dazu, dass ich einen ganzen Tag lang nicht weiterlesen konnte.
    »Heute weiß ich, dass die Verachtung, die ich für ihn empfand, eng
verbunden war mit der Verachtung meiner selbst«, las ich. Mir fiel sofort
Kittredge ein – und dass meine Abneigung für ihn damit verbunden war, dass ich
mich selbst nicht leiden konnte, weil ich mich zu ihm
hingezogen fühlte. Ich fand, James Baldwins Text käme der Wahrheit näher, als
ich bewältigen konnte, zwang mich aber, am nächsten Abend weiterzulesen.
    Immer noch im zweiten Kapitel beschreibt Baldwin »die üblichen Boys,
schlank wie Messerklingen, in hautengen Jeans«, vor denen ich innerlich
zurückschreckte; bald würde ich mir diese Boys zum Vorbild nehmen und auch ihre
Gesellschaft suchen, und bei dem Gedanken an ein Überangebot an »Boys, schlank
wie Messerklingen« in meiner Zukunft wurde mir angst und bang.
    Trotz meiner Angst hatte ich den Roman plötzlich halb geschafft und
musste immer weiterlesen. Sogar die Stelle, wo der Hass des Erzählers auf
seinen Geliebten genauso [320]  intensiv wie seine Liebe zu ihm ist und »aus
denselben Wurzeln genährt« wird; oder die Stelle, wo Giovanni als jemand
geschildert wird, der immer begehrenswert ist, während sein Atem in dem
Erzähler den Wunsch weckt, sich »zu übergeben«. Beide Stellen waren mir
wirklich zuwider, doch nur weil ich diese Gefühle in mir selbst so verabscheute
und fürchtete.
    Ja, dieses beunruhigende Hingezogensein zu Knaben und Männern ließ
mich den, wie Baldwin es nannte, »furchtbaren Peitschenhieb öffentlicher Moral«
fürchten, doch noch viel mehr ängstigte mich die Stelle, in der die Reaktion
des Erzählers beschrieben wird, als er mit einer Frau Sex hat – »ihre Brüste
jagten mir eine Heidenangst ein, und als ich in sie eindrang, bekam ich Angst,
nie wieder lebendig rauszukommen«.
    Warum war mir das nicht passiert?, fragte
ich mich. Lag es nur daran, dass Miss Frost kleine Brüste hatte? Wenn sie große
gehabt hätte, wäre ich dann von einer »Heidenangst« gepackt, statt so
erstaunlich erregt gewesen? Und wieder kam der ungebetene Gedanke: War ich
wirklich in sie »eingedrungen«? Falls nicht, würde ich dann, wenn ich beim
nächsten Mal »in sie eindrang«, anschließend angewidert sein, statt so
vollständig befriedigt?
    Sie müssen verstehen: Ehe ich Giovannis Zimmer las, hatte ich noch nie einen Roman gelesen, der mich schockiert hatte, und
dabei hatte ich mit meinen damals achtzehn Jahren schon eine Menge Romane
gelesen – darunter viele ausgezeichnete. James Baldwin schrieb tolle Sachen, und er schockierte mich – besonders als Giovanni seinen
Geliebten anschreit: »Du willst Giovanni verlassen, weil er [321]  dich stinken
lässt. Du möchtest Giovanni verachten, weil er nicht zurückschreckt vor dem
Gestank der Liebe.« Die Formulierung »Gestank der Liebe« schockierte mich und
führte dazu, dass ich mir furchtbar naiv vorkam. Was hatte ich denn gedacht,
wie es riechen könnte, wenn man mit einem Knaben oder
einem

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