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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Kapuze und spähte darunter
hervor auf Delacorte – auf die Uhr auf dem Richtertisch, auf den Mattenrichter
(der in den Schlussminuten der dritten Runde Delacorte gewöhnlich zuerst
verwarnte, um dann wegen Verzögerns einen Punktabzug zu verhängen).
    Zuzusehen, wie Delacorte rasant abbaute, war unerträglich für mich,
deshalb beobachtete ich lieber Herm Hoyt, der unter seinem Handtuch vor lauter
Wut und Mitgefühl zugrundeging. Natürlich riet ich Tom, sich auf den alten
Trainer zu konzentrieren und nicht auf Delacortes Qualen, denn Herm wusste
immer vor allen anderen (einschließlich der gerade Kämpfenden), ob sein Ringer
durchhalten und gewinnen oder die Segel streichen und verlieren würde.
    An diesem Samstag hielt Delacorte – nach seinem persönlichen
Nahtoderlebnis – tatsächlich durch und gewann. Er schleppte sich von der Matte
und brach in Herm Hoyts Armen zusammen. Der alte Trainer machte, was er bei
Delacorte immer tat – egal, ob der gewann oder verlor. Herm deckte das Handtuch
über Delacortes Kopf, und Delacorte wankte zur Mannschaftsbank, wo er unter
dieser weiten Kapuze saß und schluchzend nach Atem rang.
    »Ausnahmsweise spült oder spuckt Delacorte mal nicht«, bemerkte
Atkins sarkastisch, doch ich beobachtete Miss Frost, die jetzt plötzlich zu mir
hochsah und lächelte.
    [424]  Es war ein unbefangenes Lächeln, begleitet von einem spontanen
kleinen Winken, nur ein leichtes Wackeln mit den Fingern einer Hand. Sofort war
mir klar: Miss Frost hatte die ganze Zeit gewusst, dass ich da war, und sie
hatte es nicht anders erwartet.
    Ihr Lächeln und das Winken brachten mich so aus dem Konzept, dass
ich Angst hatte, ohmächtig zu werden und unter dem Geländer durchzurutschen;
ich sah mich schon von der Holzbahn nach unten in den Ringerbereich stürzen.
Sehr wahrscheinlich wäre es kein lebensgefährlicher Sturz gewesen; die Laufbahn
lag nicht sehr hoch über dem Hallenboden. Es wäre nur peinlich gewesen, auf die
Ringermatte zu fallen oder auf einem oder mehreren Ringern zu landen.
    »Ich fühl mich nicht wohl, Tom«, sagte ich zu Atkins. »Mir ist etwas
schwindlig.«
    »Ich halt dich fest, Bill«, sagte Tom und legte den Arm um mich.
»Guck einfach ein Weilchen nicht nach unten.«
    Ich sah ständig zum anderen Ende der Sporthalle hinüber, wo die
Tribüne war, doch Miss Frosts Aufmerksamkeit galt wieder dem Ringen; der
nächste Kampf hatte begonnen, während Delacorte immer noch schluchzte und nach
Luft schnappte – sein Kopf bewegte sich unter dem schützenden Tuch auf und ab.
    Trainer Herm Hoyt hatte wieder auf der Mannschaftsbank neben dem
Stapel sauberer Handtücher Platz genommen. Ich sah Kittredge, der die ersten
Lockerungsübungen machte; er stand hinter der Bank, wippte nur auf den
Fußballen und kippte den Kopf von einer Seite auf die andere. [425]  Kittredge
dehnte den Nacken, schaute dabei aber pausenlos auf Miss Frost.
    »Mir geht’s gut, Tom«, sagte ich, doch das Gewicht seines Armes ruhte
noch einige Sekunden länger auf meinem Nacken; ich zählte im Stillen bis fünf,
ehe Atkins den Arm wegnahm.
    »Wie wäre es, wenn wir zusammen nach Europa fahren würden?«, fragte
ich Atkins, während ich Kittredge beim Seilspringen beobachtete. Kittredge konnte
den Blick nicht von Miss Frost wenden; er sah sie unverwandt an und hüpfte
rhythmisch weiter, wobei die Geschwindigkeit des Sprungseils immer gleich
blieb.
    »Schau nur, wer jetzt von ihr gefesselt ist, Bill«, bemerkte Atkins
mürrisch.
    »Ich weiß, Tom – ich sehe ihn«, sagte ich.
(War das meine schlimmste Befürchtung, oder war es insgeheim erregend, sich
Kittredge und Miss Frost zusammen vorzustellen?)
    »Wir sollten diesen Sommer zusammen nach Europa reisen – hast du das
gemeint, Bill?«, fragte mich Atkins.
    »Warum nicht?«, erwiderte ich möglichst beiläufig, behielt aber
Kittredge im Auge.
    »Wenn deine Eltern einverstanden sind und meine auch – wir könnten
sie doch fragen, oder?«, sagte Atkins.
    »Es liegt ganz bei uns, Tom – wir müssen sie davon überzeugen, wie wichtig
es uns ist«, sagte ich ihm.
    »Sie sieht dich an, Bill!«, hauchte Atkins.
    Als ich (so unverfänglich und unauffällig wie möglich) zu Miss Frost
hinübersah, lächelte sie mich wieder an. Sie führte Zeige- und Mittelfinger an
ihre Lippen und küsste [426]  sie. Ehe ich ihr ebenfalls eine Kusshand zuwerfen
konnte, sah sie wieder zu den Ringkämpfern.
    »O Mann, das ist Kittredge bestimmt nicht entgangen!«, sagte Tom
Atkins aufgeregt.

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