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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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dem er später wieder zusammengekommen ist«, fing
Onkel Bob an.
    [417]  »Dann hast also doch du mir diese
Geschichte erzählt – stimmt’s, Onkel Bob?«, fragte ich. »Du weißt schon, der
Klobrillenrutscher, der auf dem Schiff – dem Madame Bovary aus der Hand gefallen ist; der über die ganzen Klobrillen angesegelt kam.
Später sind sie sich in der U-Bahn wiederbegegnet. Der Kerl ist an der
Haltestelle Kendall Square eingestiegen – und am Central Square wieder
ausgestiegen – und hat zu meinem Dad gesagt: ›Hallo. Ich bin Bovary. Wissen Sie
noch?‹ Den mein ich. Du hast mir die Geschichte
erzählt – stimmt’s, Onkel Bob?«
    »Nein, Billy«, sagte Onkel Bob. »Dein Dad hat dir die Geschichte
selber erzählt, und der Typ ist nicht an der
Haltestelle Central Square ausgestiegen – sondern im Zug geblieben. Dein Vater
und der Typ wurden ein Paar. Vielleicht sind sie
immer noch zusammen, wer weiß«, sagte Onkel Bob. »Ich dachte, dein Großvater
hat dir alles erzählt?« Er schien Verdacht zu
schöpfen.
    »Sieht ganz so aus, als müsste ich Grandpa Harry noch mehr fragen«,
antwortete ich.
    Der Zulassungschef blickte traurig zu Boden. »Ist die Führung gut
gelaufen, Billy?«, fragte er mich ein wenig zerstreut. »Hältst du den Jungen
für einen vielversprechenden Kandidaten?«
    Natürlich konnte ich mich weder an den Bewerber noch an seine Eltern
erinnern.
    »Danke für alles, Onkel Bob«, sagte ich. Ich mochte ihn wirklich,
und er tat mir leid. »Ich finde, du bist ein prima Kerl!«, rief ich ihm zu,
während ich aus dem Zulassungsbüro lief.
    Ich wusste, wo ich Grandpa Harry finden konnte; da es [418]  ein
Arbeitstag war, befand er sich nicht zu Hause, unter Nana Victorias Pantoffel.
Harry Marshall hatte nicht wie ein Lehrer Weihnachtsferien. Ich wusste, dass er
in der Sägemühle mit Holzlager war, wo ich ihn wenig später antraf.
    Ich sagte ihm, dass ich meinen Vater in den Jahrbüchern der Favorite
River Academy gefunden hatte und dass Onkel Bob mir alles gestanden hatte, was
er über den stockschwulen Franny Dean wusste, den tuntigen Jungen in
Mädchenkleidern, der früher mal die Kleider meiner Mutter anprobiert hatte – ja
sogar, wie es hieß, die meiner Tante Muriel !
    Aber was war an der Aussage dran, dass mein Vater tatsächlich mich besucht hatte – als ich Scharlach hatte, nicht wahr?
Und wie konnte mein Vater mir wirklich die Geschichte über den Soldaten erzählt
haben, den er an Deck des Liberty-Kreuzers während eines Wintersturms auf dem
Atlantik kennengelernt hatte? Das Transportschiff hatte gerade die offene See
erreicht – der Konvoi war von dem Ausschiffungshafen Hampton Roads unterwegs
nach Italien –, als mein Dad die Bekanntschaft eines Klobrillenrutschers
machte, der Madame Bovary las.
    »Wer zum Teufel war der Kerl?«, fragte ich Grandpa Harry.
    »Das war dann wohl die andere Person, die
Franny geküsst hat, wobei sie von deiner Mom gesehen wurden«, erklärte er mir.
»Du hattest Scharlach, Bill. Dein Dad hat gehört, dass du krank warst, und
wollte dich sehen. So wie ich Franny kenne, hab ich den Verdacht, dass er sich
bei der Gelegenheit auch Richard Abbott mal anschauen wollte«, sagte Grandpa
Harry. »Franny wollte sich bestimmt nur [419]  vergewissern, dass du in guten
Händen warst. Er war kein schlechter Kerl, Bill – er war halt nur kein
richtiger Kerl !«
    »Und niemand hat es mir gesagt«, stellte ich fest.
    »Je nun – darauf ist bestimmt keiner von
uns besonders stolz, Bill!«, rief Grandpa Harry aus. »Aber so ist nun mal der
Lauf der Dinge. Deine Mom war gekränkt. Die arme Mary hat das mit dem
Verkleiden einfach nie so ganz begriffen – sie hat sich wohl vorgestellt,
Franny würde da rauswachsen.«
    »Und was war mit dem Madame-Bovary -Typen?«,
fragte ich meinen Großvater.
    »Je nun – im Leben begegnet man verschiedenen Menschen, Bill«, sagte
Grandpa Harry. »Manchmal sind es einfach nur Begegnungen, nichts weiter, aber
dann plötzlich kommt’s zur Begegnung mit der Liebe deines Lebens, und das ist
ganz was anderes – weißt du?«
    Miss Frost sollte ich nur noch zweimal treffen. Von den Spätfolgen
einer »Begegnung mit der Liebe deines Lebens« wusste ich nichts – noch nicht.

[420]  10
    Eine Aktion
    Zum vorletzten Mal sah ich Miss Frost 1961 bei einem
Ringerwettkampf der Favorite River Academy gegen eine andere Schule. Es war der
erste Heimwettkampf der Saison, und Tom Atkins und ich gingen zusammen hin. Die
Ringerhalle (ehemals die

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