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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Stunde zu zweit in Elaines Zimmer im
vierten Stock, bevor Mr. und Mrs. Hadley aus dem Kino in Ezra Falls
zurückkamen. Da Weihnachtsferien waren, vermuteten wir, dass die Hadleys, meine
Mutter und Richard mit Tante Muriel und Onkel Bob nach dem Film noch irgendwo
einen Drink nahmen, und so war es auch.
    Uns blieb mehr als reichlich Zeit, die 1940er Eule durchzublättern und uns sämtliche Fotos des stockschwulen Franny Dean
anzuschauen – des hübschesten Jungen seines Jahrgangs. Auf den Fotos des
Theaterclubs war William Francis Dean im Frauenkostüm eine Wucht, und da
schließlich, beim Abschlussball, war das fehlende Foto, nach dem Elaine und ich
so fieberhaft gesucht hatten. Da hielt der kleine Franny meine Mutter, Mary
Marshall, bei einem langsamen Schieber im Arm – missbilligend beäugt von der
großen Schwester Muriel. Ach, die Winthrop-Mädels (»diese Winthrop-Frauen«, wie
Miss Frost meine Mutter und deren Schwester Muriel mit Nana Victorias
Mädchennamen genannt hatte)! Wenn man sich fragte, wer in der Familie Marshall
die Hosen anhatte, waren dafür eindeutig die Winthrop-Gene ausschlaggebend.)
    Ich wartete nicht lange damit, Onkel Bob zur Rede zu stellen. Für
den nächsten Tag hatte sich ein Aufnahmekandidat mit seinen Eltern angesagt;
Onkel Bob rief mich an und fragte, ob ich die Führung durch die Academy übernehmen
wollte.
    Als ich damit fertig war, fand ich ihn allein im Zulassungsbüro vor;
in den Weihnachtsferien erschienen die Sekretärinnen eher selten zur Arbeit.
    [415]  »Was gibt’s, Billy?«, fragte mich Onkel Bob.
    »Du hast bestimmt vergessen, dass du die 1940er Eule doch schon in die Bibliothek zurückgebracht hast«,
fing ich an.
    »Wirklich?«, fragte Onkel Bob. Ich sah,
dass er überlegte, wie er das je im Leben Muriel erklären sollte.
    »Die Eule ist ja wohl nicht von allein in
den Jahrbuchraum zurückspaziert«, sagte ich. »Außerdem hat mir Grandpa Harry
alles über den ›stockschwulen‹ Franny Dean erzählt und was für ein hübscher
Junge er war. Ich kapier bloß nicht, wie das mit meiner Mom alles angefangen
hat – ich meine, wann und warum. Also, wie ist es überhaupt dazu gekommen?«
    »Franny war kein schlechter Kerl, Billy«, beeilte Onkel Bob sich zu
versichern. »Er war halt einfach nur so ein bisschen vom anderen Ufer,
verstehst du?«
    Den Ausdruck hatte ich schon gehört – natürlich von Kittredge –,
aber ich sagte nur: »Warum hat sich meine Mom überhaupt in ihn verliebt? Wie
hat es angefangen ?«
    »Er war noch sehr, sehr jung, als er deine Mutter kennenlernte – sie
war vier Jahre älter, was in dem Alter eine Menge heißt, Billy«, setzte Onkel
Bob an. »Deine Mutter hat ihn auf der Bühne gesehen – als Mädchen natürlich.
Danach hat er ihr Komplimente über ihre Kleidung gemacht.«
    »Ihre Kleidung«, wiederholte ich.
    »Offenbar mochte er Mädchenkleider – er hat selber gern welche
getragen, Billy«, sagte Onkel Bob.
    »Oh!«
    »Deine Großmutter hat sie im Schlafzimmer deiner Mutter gefunden –
an einem Tag, als deine Mutter gerade [416]  von der Highschool in Ezra Falls
zurückgekommen war. Deine Mom und Franny Dean haben Kleider anprobiert. Es war
bloß ein Kinderspiel, aber deine Tante Muriel hat mir erzählt, Franny habe
nicht nur Marys, sondern auch Muriels Kleider
anprobiert. Und dabei hat sich Mary Hals über Kopf in ihn verguckt, aber Franny
muss da schon gewusst haben, dass er mehr auf Jungen stand. Er hatte wirklich
was für deine Mom übrig, Billy, aber vor allem mochte er ihre Kleider.«
    »Immerhin hat sie es geschafft, schwanger zu werden«, gab ich zu bedenken. »Man kann kein Mädchen schwängern, indem man
ihre Kleider fickt!«
    »Denk mal in Ruhe drüber nach, Billy – die beiden haben sich
andauernd an- und ausgezogen«, sagte Onkel Bob. »Sie müssen ziemlich oft in
Unterwäsche gewesen sein – na ja, du weißt schon.«
    »Ich kann es mir nur schwer vorstellen«, sagte ich.
    »Dein Grandpa hielt große Stücke auf Franny Dean, Billy – ich
glaube, Harry hat gedacht, da könnte was draus werden«, sagte Onkel Bob.
»Vergiss nicht, deine Mutter war immer ein wenig unreif  –«
    »Ein wenig einfältig, meinst du wohl?«, unterbrach ich ihn.
    »Als Franny jünger war, hatte deine Mutter ihn irgendwie an der Kandare – weißt du, Billy, sie konnte ihn praktisch
rumkommandieren.«
    »Aber dann ist Franny älter geworden«, sagte ich.
    »Und dann war da noch dieser Kerl – den Franny im Krieg
kennengelernt hat und mit

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