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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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bei unserem ersten Gespräch von
meiner Einberufung zur Armee erzählt hatte. Als ich zur Musterung bestellt
wurde – wann genau das war und an vieles andere kann ich mich nicht mehr
erinnern, weil ich an dem Tag einen fürchterlichen Kater hatte –, kreuzte ich
das Kästchen an, das so etwas wie »homosexuelle Neigungen« abfragte; und ich
weiß noch vage, dass ich diesen Begriff mit österreichischem Akzent vor mich
hin flüsterte – ganz so, als wäre Doktor Grau noch am Leben und spräche mit
mir.
    Der Armeepsychologe war ein stocksteifer Leutnant; an den erinnere ich mich gut. Bei meiner Befragung ließ er
seine Bürotür offen stehen – damit die Rekruten, die nach mir dran waren, alles
mithören konnten –, aber ich hatte in meinem Leben schon andere und weit
raffiniertere Einschüchterungstaktiken überstanden. (Denken Sie bloß an
Kittredge.)
    »Und was ist dann passiert?«, hatte Alice gefragt, als ich ihr die
Geschichte erzählte. Sie war eine so gute Zuhörerin, [482]  dass ich immer den
Eindruck hatte, sie könne kaum abwarten, was als Nächstes kam. Aber meine
Einberufungsgeschichte war ihr bloß nicht konkret genug.
    »Mögen Sie keine Frauen?«, hatte mich der Leutnant gefragt.
    »O doch – und ob ich Frauen mag«, hatte
ich geantwortet.
    »Was genau ist unter Ihren ›homosexuellen Neigungen‹ dann zu
verstehen?«, fragte der Armeepsychologe.
    »Ich mag auch Männer«, sagte ich ihm.
    »Wirklich?«, fragte er. »Mögen Sie Männer lieber als Frauen?«, fuhr er lautstark fort.
    »Ach, das ist immer so schwer zu entscheiden«, hauchte ich kokett.
»Tatsächlich mag ich nämlich beide !«
    »Hm«, räusperte sich der Leutnant. »Und haben Sie den Eindruck, dass
sich diese Tendenz verfestigt ?«
    »Na, das will ich doch hoffen !«, sagte ich – so enthusiastisch, wie ich konnte. (Diese Geschichte fand Alice toll;
jedenfalls sagte sie das. Sie fand, daraus könnte eine lustige Filmszene
werden.)
    »Das Wort lustig hätte dich warnen müssen,
Bill«, erklärte Larry mir viel später, als ich wieder in New York war. »Oder
wenigstens das Wort Filmszene. «
    Bei Alice hätte mich warnen müssen, dass sie sich Notizen machte,
wenn wir uns unterhielten. »Wer macht sich schon bei einem Gespräch unter
Freunden Notizen?«, hatte Larry mich gefragt; und, ohne die Antwort abzuwarten:
»Und wem von euch beiden gefällt es, dass sie sich
die Achselhaare nicht rasiert?«
    Ungefähr zwei Wochen nachdem ich das Kästchen mit [483]  den »homosexuellen
Tendenzen«, oder was auch immer auf dem dämlichen Formular stand, angekreuzt
hatte, bekam ich meine Einstufungsbenachrichtigung – oder vielleicht war es
meine Um stufungsbenachrichtigung. Ich glaube, es war
Stufe 4F, »untauglich«, was mit dem Unterschreiten oder Nichterreichen von
»üblichen physischen, psychischen oder moralischen Normen« begründet wurde.
    »Aber was genau stand in der Benachrichtigung – wie haben sie dich
genau eingestuft?«, wollte Alice wissen. »War es tatsächlich Stufe vier F?«
    »Ich weiß es nicht mehr – ist mir egal«, antwortete ich.
    »Aber das ist doch viel zu unpräzise !«,
sagte Alice.
    Natürlich hätte mir auch das Wort unpräzise eine Warnung sein müssen. Ein weiterer Brief war eingetrudelt (vielleicht von
der Wehrüberwachung), der mich aufforderte, einen Psychologen aufzusuchen –
nicht irgendeinen, sondern einen bestimmten.
    Ich hatte den Brief an Grandpa Harry weitergeleitet, der ihn dem
Rechtsanwalt vorlegte, der ihn und Nils oft bei ihren Holzgeschäften beriet.
Der sagte, man könne mich nicht zwingen, zum Psychologen zu gehen; also ließ
ich es und hörte nie wieder von der Einberufungsbehörde. Das Problem war, dass
ich diese ganze Geschichte – wenn auch nur am Rande – in meinem ersten Roman
geschildert hatte. Mir war nicht klar, dass Alice sich für meinen Roman interessierte; ich dachte, sie wäre an jeder
Kleinigkeit aus meinem Leben interessiert.
    »Die meisten verlassenen Stätten der Kindheit werden mit der Zeit
nicht farbiger, sondern blasser«, schrieb ich in diesem Roman. (Alice hatte mir
gesagt, wie gut ihr dieser [484]  Satz gefiel.) Der Ich-Erzähler, ein geouteter
Schwuler, liebt den Helden, der sich weigert, das Kästchen mit den
»homosexuellen Neigungen« anzukreuzen; der Held, ein verkappter Schwuler, fällt
später in Vietnam. Man könnte sagen, der Roman handelt davon, dass es einen
umbringen kann, sich nicht zu outen.
    Eines Tages spürte ich, dass Alice sehr aufgeregt war.

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