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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Lebens in einem einzigen Sommer mit einem einzigen Versuch erledigen.
    Mit meinen Vorstellungen von der Liebe meines Lebens verhielt es
sich genau umgekehrt: In diesem Sommer hatte ich es nicht eilig, die Suche zu
beenden – ich hatte ja eben erst damit begonnen!
    Einige Buchseiten später folgte schließlich Emmas Sterbeszene, ihre
letzten Zuckungen – nachdem sie das rauhe [476]  Singen des Blinden und das
Scharren seines Stockes gehört hat. Als Emma stirbt, glaubt sie, »das
scheußliche Gesicht des Unglücklichen vor sich [zu sehen], der sich wie ein
Schreckgespenst in der ewigen Nacht vor ihr aufrichtete«.
    Der arme Tom zitterte vor Reue und Entsetzen. »Das würde ich niemandem wünschen, Bill!«, klagte er schluchzend. »Ich
hab’s nicht so gemeint – ich hab’s nicht so gemeint, das hat sie nun wirklich
nicht verdient, Bill!«
    Ich weiß noch, dass ich ihn in den Arm nahm, während er weinte. Auch
wenn Madame Bovary kein Gruselroman ist, hatte er
doch genau diese Wirkung auf Tom Atkins. Tom war sehr blass, mit Sommersprossen
auf Brust und Rücken, und wenn er sich aufregte oder weinte, lief sein Gesicht
rot an, als hätte ihn jemand geohrfeigt, und seine Sommersprossen sahen ganz
entzündet aus.
    Als ich Madame Bovary weiterlas – die
Stelle, wo Charles Rodolphes Brief an Emma findet (Charles ist so schwer von
Begriff, dass er sich einredet, seine untreue Frau und Rodolphe hätten sich
vielleicht »nur platonisch geliebt«) –, zuckte Atkins zusammen, als hätte er
Schmerzen. »Im Übrigen gehörte Charles nicht zu den Menschen, die den Dingen
auf den Grund gehen«, las ich weiter, während der arme Tom aufstöhnte.
    »O Bill – nein, nein, nein! Bitte sag, dass ich nicht so ein Mann wie Charles bin. Ich geh den Dingen
nämlich auf den Grund«, rief Atkins. »O Bill – doch, echt, wirklich wahr!« Und wieder löste sich der arme Tom in Tränen auf – wie sehr viel später
auch, als er im Sterben lag und den Dingen ernstlich auf den Grund ging. (Doch
das war kein Grund, den irgendwer von uns vorausgeahnt hätte.)
    [477]  » Gibt es die ewige Nacht, Bill?«,
sollte Atkins mich eines Tages fragen. »Und lauert einem dort ein scheußliches
Schreckgespenst-Gesicht auf?«
    »Nein, nein, Tom«, versuchte ich ihn da zu beruhigen. »Entweder ist
da nur Nacht – kein Schreckgespenst, rein gar nichts –, oder es ist sehr
hell, ein unwahrscheinlich hell strahlendes Licht, und man sieht lauter
wundervolle Dinge.«
    »So oder so, keine Schreckgespenster – stimmt’s, Bill?«, fragte mich
der arme Tom.
    »Richtig, Tom – so oder so keine Schreckgespenster.«
    In jenem Sommer 1961 waren wir noch in Italien, als ich ans Ende von Madame Bovary kam; mittlerweile war Atkins zu einem
so selbstmitleidigen Häufchen Elend geworden, dass ich mich im WC einschloss und das Buch allein auslas. Als es Zeit
zum Vorlesen war, übersprang ich den Absatz über die Autopsie – diese grausigen
zwei Sätze, in denen der Arzt die Leiche öffnet und nichts findet. Ich wollte mir das Zusammenzucken des armen Tom bei dem Wörtchen nichts ersparen. (»Aber wie kann da nichts gewesen sein, Bill?«, hätte er dann garantiert gefragt.)
    Vielleicht lag es an dem übersprungenen Absatz, aber jedenfalls
passte Tom Atkins das Ende von Madame Bovary nicht.
    »Es ist so gar nicht befriedigend «,
beschwerte er sich.
    »Wie wär’s, wenn ich dir einen blase, Tom?«, fragte ich. »Ich werd
dir zeigen, was befriedigend ist.«
    »Ich mein’s ernst, Bill«, erwiderte er pikiert.
    »Ich auch, Tom – ich auch«, versicherte ich ihm.
    Dass sich nach diesem Sommer unsere Wege trennten, [478]  überraschte
uns beide nicht. Eine Zeitlang schrieben wir uns lieber und pflegten eine
sporadische, aber herzliche Brieffreundschaft, als dass wir uns trafen. Einige
Semester lang riss mein Kontakt zu ihm ganz ab; ich dachte mir schon, er
versuche es mit einer Freundin, hörte dann aber, Tom habe Drogenprobleme und
sei wegen homosexuellem Sex in der Öffentlichkeit in Schwierigkeiten geraten.
(Und das in Amherst!) Es war noch ganz früh in den sechziger Jahren, als das
Wort »homosexuell« noch einen abstoßend klinischen Unterton hatte; damals
hatten Homosexuelle natürlich keine »Rechte« – wir waren nicht einmal eine
»Gruppe«. Ich wohnte bis 1968 noch in New York, und selbst da gab es nicht
annähernd etwas wie das, was wir heute eine »Gay Community« nennen, jedenfalls
keine richtige Gemeinschaft. (Was es gab, war

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