Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
etwas haften geblieben, das nie wieder
auszulöschen war«.
    »Wie das Bienenwachs an ihren Schuhsohlen, verstehst du?«, fragte
ich den armen Tom.
    [473]  »Ich finde Emma zum Kotzen«, antwortete Atkins. Ich hingegen fand
bald zum Kotzen, dass für Tom Sex mit mir offenbar der einzige Trost für seine
»Qualen« beim Anhören von Madame Bovary war.
    »Dann lass es mich doch allein lesen!«, flehte ich ihn an. Doch dann
hätte ich mich ja der Vernachlässigung schuldig gemacht – schlimmer noch, ich
hätte seiner Gesellschaft die von Emma vorgezogen!
    Also las ich Atkins vor – »sie war voll wilder Gelüste, von Wut und
Hass erfüllt« –, während er sich wand; es war die reinste Folter für ihn.
    Als ich die Stelle vorlas, in der Emma schon die bloße Vorstellung
so »beseligt[e]«, sich ihren ersten Liebhaber zu nehmen – »als wäre sie zum
zweiten Mal zur Frau geworden« –, fürchtete ich, Atkins werde sich gleich in
unser Bett übergeben. (Und ich dachte mir, Flaubert hätte es bestimmt amüsiert,
dass der arme Tom und ich Madame Bovary ausgerechnet
in Frankreich lasen und dass zu unserem Pensionszimmer keine Toilette gehörte –
nur ein Bidet.)
    Während Atkins weiter ins Bidet reiherte, machte ich mir klar, wie
erregend ich Untreue (meine Untreue, die der arme Tom so fürchtete) fand.
Inzwischen verstehe ich, warum Monogamie – unter tätiger Mithilfe von Madame Bovary – auf meine Liste unerfreulicher Dinge kam,
die für mich mit einem Leben als Heterosexueller verbunden waren, aber genau
genommen war Tom Atkins der auslösende Faktor. Da waren wir nun in Europa und
erlebten sexuell das alles, wovor Miss Frost mich so
wohlmeinend bewahrt hatte – und Atkins litt bereits Qualen, dass ich ihn
eventuell [474]  verlassen könnte (vielleicht, aber nicht unbedingt, wegen einer
anderen Person).
    Während Atkins in dieses französische Bidet kotzte, las ich ihm
weiter aus Madame Bovary vor. »Dann dachte sie wieder
an die Heldinnen der Romane, die sie gelesen hatte, und die gefühlvolle Schar
dieser Ehebrecherinnen sang in ihrem Gedächtnis mit schwesterlichen Stimmen,
die sie bezauberten.« (Ist das nicht großartig?)
    Zugegeben, es war gemein, dass ich diese Stelle über die
»Ehebrecherinnen« extra laut vorlas, aber Atkins kotzte so geräuschvoll, dass
er mich sonst wegen des Gurgelns im Bidet nicht gehört hätte.
    Tom und ich waren in Italien, als Emma Gift nahm und starb.
(Ungefähr um die Zeit, als ich diese Nutte mit dem Hauch eines Damenbarts auf
der Oberlippe so hingebungsvoll anstarrte und der arme Tom mich dabei
ertappte.)
    »Sie erbrach gleich darauf Blut«, las ich vor. Auch wenn ich
mittlerweile zu wissen glaubte, was genau Atkins’ Missfallen erregte – während
es mich anzog –, konnte ich doch nicht ahnen, wie kategorisch Tom Atkins etwas
missbilligen konnte. Er jauchzte regelrecht, als Emmas Ende kam und sie Blut
kotzte.
    »Mal sehen, ob ich das richtig verstehe, Tom«, sagte ich und
unterbrach mich kurz vor der Stelle, als Emma zu schreien beginnt. »Willst du
mit deinem Jubel etwa sagen, dass Emma recht geschieht ?«
    »Also wirklich, Bill – natürlich geschieht ihr recht. Nach allem, was sie angerichtet hat! Und wie sie sich benommen hat!«, rief
Atkins.
    »Sie hat den langweiligsten Mann von ganz Frankreich [475]  geheiratet,
aber weil sie ihn betrügt, hat sie einen qualvollen Tod verdient – willst du
das damit sagen, Tom?«, fragte ich ihn. »Emma Bovary langweilt sich. Soll sie
sich einfach zu Tode langweilen – nur um des lieben Friedens willen?«
    » Du langweilst dich, oder, Billy? Du
findest mich langweilig, stimmt’s?«, kam es kläglich
von Tom zurück.
    »Es geht nicht immer nur um uns beide,
Tom«, erklärte ich ihm.
    Dieses Gespräch sollte ich noch bereuen. Jahre später, als Tom
Atkins im Sterben lag – damals, als so viele rechtschaffene Bürger der Meinung
waren, der arme Tom und andere seinesgleichen hätten ihren Tod verdient  –, bereute ich, dass ich mich über Atkins lustig
gemacht und ihn vorgeführt hatte.
    Tom Atkins war ein guter Mensch, nur eben unsicher und als Liebhaber
ungeschickt. Als einer, der sich immer ungeliebt gefühlt hatte, überfrachtete
er unseren Sommer in Europa mit unrealistischen Erwartungen. Er war
besitzergreifend, aber nur, weil er in mir unbedingt die Liebe seines Lebens
sehen wollte. Wahrscheinlich fürchtete der arme Tom, ewig ungeliebt zu bleiben, und stellte sich vor, er könnte die Suche nach der Liebe
seines

Weitere Kostenlose Bücher