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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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einer
Sopran-Zweitbesetzung hatte – und, später, dass ich was mit einem berühmten
amerikanischen Dichter hatte.
    »Wärst du meine Freundin gewesen, wäre ich dir wirklich treu geblieben, Elaine – oder hätte es wenigstens ernsthaft versucht«,
versicherte ich ihr. Und hörte mir eine Weile an, wie sie auf dem Beifahrersitz
weinte.
    »Wenn du mein Freund gewesen wärst, Billy, hätte ich es auch
ernsthaft versucht«, sagte sie schließlich.
    Wir fuhren in nordöstlicher Richtung, dann ab Ezra Falls nach Westen – neben uns floss der Favorite River, nördlich der Straße. Selbst im Februar,
bei noch so großer Kälte, fror dieser Fluss nie ganz zu. Natürlich hatte ich
mir überlegt, mit Elaine Kinder zu haben, aber es war sinnlos, das
anzusprechen; Elaine machte keine Witze über die Größe von Babyköpfen – in
ihren Augen waren sie gigantisch.
    [502]  Als wir durch die River Street fuhren, vorbei an dem Gebäude, das
früher die Stadtbücherei von Favorite Sister gewesen war – jetzt Sitz des
städtischen Geschichtsvereins –, sagte Elaine: »Auf dem Messingbett dort
drinnen haben wir beide mal unseren Text gelernt, für Der
Sturm, vor ungefähr einem Jahrhundert.«
    »Vor fast zwanzig Jahren, ja«, sagte ich. Ich dachte weder an Der Sturm noch daran, dass ich mit Elaine auf dem
Messingbett meinen Text gelernt hatte. Meine Erinnerungen an dieses Bett waren
andere, aber als ich an der ehemaligen Stadtbücherei vorbeifuhr, kam mir in den
Sinn – gerade mal siebzehn Jahre nachdem die ach so verpönte Bibliothekarin die
Stadt verlassen hatte –, Miss Frost könnte womöglich noch andere junge Männer
in ihrem Keller-Schlafzimmer beschützt haben (oder
auch nicht).
    Aber welchen anderen jungen Männern konnte Miss Frost schon in der
Bücherei begegnet sein? Mit einem Mal fiel mir ein, dass ich dort nie Kinder gesehen hatte. Und an Jugendlichen
allerhöchstens mal ein junges Mädchen, das zum Besuch der Highschool in Ezra
Falls verdammt war. Heranwachsende Jungen hatte ich
nie in der Stadtbücherei von First Sister gesehen – bis auf den einen Abend, an
dem Tom Atkins kam, um mich zu suchen.
    Außer mir dürfte man wohl sämtliche Knaben
unseres Städtchens eindringlich vor dem Besuch dieser Bücherei gewarnt haben.
Garantiert hatten sämtliche verantwortungsbewussten Eltern von First Sister
verhindert, dass ihre halbwüchsigen Söhne in den Einflussbereich des
transsexuellen Ringers gerieten, der den Laden schmiss!
    Plötzlich wurde mir klar, warum ich erst so spät meinen [503]  Bibliotheksausweis
bekommen hatte; niemand aus meiner Familie hätte mich je Miss Frost unter die Augen kommen lassen. Das war nur passiert, weil Richard
Abbott angeboten hatte, mich zur Stadtbücherei von First Sister mitzunehmen,
und niemand aus meiner Familie Richard etwas abschlagen konnte – oder die
Geistesgegenwart besaß, seinen spontanen und gutgemeinten Vorschlag
abzuschmettern. Mir war es nur gelungen, Miss Frost kennenzulernen, weil
Richard erkannt hatte, wie absurd es war, einem Dreizehnjährigen in einer
Kleinstadt den Büchereiausweis vorzuenthalten.
    »Die zwanzig Jahre kommen mir vor wie ein Jahrhundert, Billy«, sagte
Elaine gerade.
    Mir nicht, wollte ich sagen, brachte es
aber nicht heraus. Mir kommt es vor, als wäre es gestern gewesen, wollte ich ausrufen, doch die Stimme versagte mir.
    Elaine, die meine Tränen sah, legte mir eine Hand auf den
Oberschenkel. »Tut mir leid, dass ich das Messingbett erwähnt hab, Billy«, sagte
sie. (Elaine, die mich so gut kannte, wusste, dass ich nicht um meine Mutter
weinte.)
    Wenn man die Geheimnisse bedenkt, die meine Familie unter den
Teppich kehrte – diese schweigenden Mahnwachen, die wir als Ersatz für alles
abhielten, das auch nur im Entferntesten Offenheit und Ehrlichkeit gleichkam –,
grenzt es fast an ein Wunder, dass mir nicht auch noch eine religiöse Erziehung
verpasst wurde; aber die Winthrop-Frauen waren nicht religiös. Wenigstens diese
Heuchelei blieb Grandpa Harry und mir erspart. Was Onkel Bob und Richard Abbott
anging, weiß ich, dass das [504]  Zusammenleben mit meiner Tante Muriel und meiner
Mutter zeitweise frommen Exerzitien geähnelt haben muss – erfüllt von streng
religiöser Demut, wie etwa beim Fasten oder vielleicht einer nächtlichen
Prüfung (zum Beispiel die ganze Nacht wach zu bleiben, obwohl Schlafengehen
natürlicher wäre).
    »Was finden die Leute nur an einer Totenwache ?«,
hatte Grandpa Harry uns gefragt. Zuerst gingen wir

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