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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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für ihren Gatten. Nicht nur konnte ich mir dessen Vornamen einfach nicht
merken, falls er je einen hatte; der Hauch von Ruhm, den er durch seine
Auftritte als Historiker bei Protestkundgebungen während des Vietnamkriegs
erlangte, hatte ihn seiner Familie entfremdet. Zwar hatte er immer schon
distanziert gewirkt – allem Anschein nach nicht nur von seiner Frau, sondern
auch von seinem einzigen Kind Elaine –, doch sein Kampf für eine Sache (seine
Anti-Vietnamkriegs-Kampagne mit den Favorite-River-Schülern) entfremdete ihn den
beiden vollkommen und führte schließlich dazu, dass er sich wenig bis gar nicht
mehr mit Erwachsenen abgab.
    So etwas passiert schon mal in Internaten, nämlich dass ein Lehrer
nicht glücklich ist mit seinem Leben als Erwachsener und versucht, wie einer seiner
Schüler zu werden. Im Falle von Mr. Hadley fiel seine unselige Regression zu
einem Schüler mit Mitte fünfzig zufällig mit der Entscheidung der Favorite
River Academy zusammen, Mädchen aufzunehmen. Das war
gerade mal zwei Jahre vor dem Ende des Vietnamkriegs.
    »O weh«, sagte Elaine, wie so oft, doch diesmal fügte sie hinzu:
»Wenn der Krieg aus ist, welche Kampagne wird mein Vater dann anführen? Wie
will er all diese Mädchen bei der Stange halten?«
    Elaine und ich trafen meinen Onkel Bob erst auf der »Party«. Ich
hatte gerade den Aufruf von Tennisarm-Bob in der letzten Ausgabe des River Bulletin gelesen; dem Bericht für den 61er Jahrgang,
meinem also, war ein [508]  flehentlicher Eintrag der Rubrik »Hilferufe aus der
Abteilung Wo-seid-ihr-alle?« angefügt.
    »Was ist los mit dir, Jacques Kittredge?«, hatte Onkel Bob
geschrieben. Nach seinem B.A. in Yale (1965)
hatte Kittredge ein dreijähriges Aufbaustudium an der Yale School of Drama
absolviert und 1967 seinen Master of Fine Arts gemacht. Seither hatten wir
nichts mehr von ihm gehört.
    »Einen Scheiß-Master of Fine Arts in was denn?«, hatte Elaine vor über zehn Jahren gefragt – als The
River Bulletin zuletzt etwas von (oder über) Kittredge gemeldet hatte.
Elaine meinte, es könnte ein Abschluss als Schauspieler sein, als
Bühnenbildner, Tontechniker, Regisseur, Dramatiker, Inspizient, Bühnentechniker
und -ausstatter, Intendant – selbst als Dramaturg oder Theaterkritiker.
»Wetten, er ist ein Scheiß- Kritiker «, sagte sie. Ich
sagte ihr, mir sei egal, was aus Kittredge geworden sei; ich wolle es nicht
wissen.
    »O doch, mein Lieber. Mir kannst du doch nichts vormachen, Billy«,
hatte Elaine entgegnet.
    Da saß Tennisarm-Bob nun, oder genau genommen versank er eher in dem
Sofa in Grandpa Harrys Wohnzimmer, so dass es aussah, als würde es eine ganze
Ringermannschaft brauchen, um ihn wieder auf beide Beine zu stellen.
    »Mein Beileid wegen Tante Muriel«, sagte ich zu ihm. Als er vom Sofa
aus nach oben langte, um mich zu umarmen, verschüttete er sein Bier.
    »Scheiße, Billy«, sagte Bob, »die Leute, von denen man es am
wenigsten erwartet, verschwinden einfach.«
    »Verschwinden einfach«, wiederholte ich vorsichtig.
    [509]  »Zum Beispiel dein Mitschüler, Billy. Wer hätte gedacht, dass
Kittredge einmal verschwinden würde?«, fragte Onkel Bob.
    »Du glaubst doch nicht etwa, dass er tot ist, oder?«, fragte ich
Tennisarm-Bob.
    »Er wird wohl eher den Kontakt abgebrochen haben«, sagte Onkel Bob.
Seine Zunge war so schwer, dass sich das Wort »abgebrochen« anhörte, als hätte
es sieben oder acht Silben; da ging mir auf, dass Bob sich in aller Stille
sinnlos betrunken hatte, obwohl die Trauerfeier für meine Tante Muriel und
meine Mutter eben erst begonnen hatte.
    Zu Bobs Füßen lagen ein paar leere Flaschen; als er die fallen ließ,
aus der er zuletzt Bier getrunken (und verschüttet) hatte, kickte er geschickt
alle bis auf eine unter das Sofa – und zwar ohne hinzusehen.
    Früher hatte ich mich mal gefragt, ob Kittredge wohl nach Vietnam
gezogen war; er hatte so etwas Heldenhaftes an sich. Ich kannte zwei andere
Ringer von Favorite River, die im Krieg gefallen waren. (Erinnern Sie sich noch
an Wheelock? Ich nur mit Mühe – als angemessen »säbelrasselnden« Antonio,
Sebastians Freund, in Was ihr wollt. Und Madden, das
selbstmitleidige Schwergewicht, der in derselben Inszenierung den Malvolio
spielte? Madden sah sich immer als »ewiges Opfer«; mehr fällt mir zu ihm nicht
ein.)
    Aber betrunken, wie er war, muss Onkel Bob dennoch meine Gedanken
erraten haben, denn er sagte plötzlich: »So wie ich Kittredge kenne, hat er
sich bestimmt vor

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