In einer Person
zu seinem Haus in der River
Street; halb hatte ich erwartet, von Harry als Frau, oder zumindest in Nana Victorias Kleidern, begrüßt zu werden, doch er sah aus
wie ein Holzfäller: Jeans, Flanellhemd, unrasiert. »Ich meine, was kann einen
Lebenden daran so faszinieren, über Leichen zu wachen – also bevor es ans
eigentliche Begräbnis geht? Wo sollen die Leichen denn hin? Warum müssen
Leichen bewacht werden?«, fragte Grandpa Harry.
Wir waren in Vermont; es war Februar. Niemand würde Muriel oder
meine Mutter vor April beerdigen, wenn der Boden aufgetaut war. Ich konnte mir
nur vorstellen, dass das Bestattungsinstitut Grandpa Harry gefragt hatte, ob er
eine richtige Totenwache veranstalten wollte; das musste wohl seinen
Wortschwall ausgelöst haben.
»Du lieber Himmel – wir werden die Leichen bis in den Frühling bewachen !«, hatte er
ausgerufen.
Ein Gottesdienst war nicht geplant. Grandpa Harry hatte ein großes
Haus; Freunde und Verwandte waren zu Cocktails und einem Partyservice-Buffet
eingeladen. Das Wort Trauer war erlaubt, aber nicht
in der Verbindung mit Gottesdienst; davon war nicht die Rede. Harry wirkte
zerstreut und vergesslich. Elaine und ich fanden beide, dass er [505] sich nicht
wie ein Mann verhielt, der vor kurzem seine beiden einzigen Kinder, zwei
Töchter, verloren hatte. Sondern wie ein Vierundachtzigjähriger, der seine
Lesebrille verlegt hatte – irgendwie gespenstisch, losgelöst vom Hier und
Jetzt. Wir überließen es ihm, sich für die »Party« feinzumachen; Elaine und ich
hatten uns nicht verhört – Harry hatte das Wort »Party« gebraucht.
»O weh«, hatte Elaine gesagt, als wir aus dem Haus in der River
Street traten.
Seit meiner Favorite-River-Schulzeit war ich zum ersten Mal während
des Schuljahres »zu Hause« – also in Richard Abbotts Lehrerwohnung in Bancroft
Hall. Das war irritierend, aber noch irritierender war für Elaine, wie jung die
Schüler aussahen.
»Ich sehe keinen, mit dem ich mir Sex auch nur vorstellen könnte«, sagte sie.
Wenigstens war Bancroft Hall immer noch ein Jungenwohnheim; es war
verwirrend genug, all die vielen Mädchen auf dem Campus zu sehen. Wie die
meisten anderen reinen Jungen- oder Mädcheninternate in New England war
Favorite River 1973 zur Koedukation übergegangen. Onkel Bob arbeitete nicht
mehr in der Zulassung. Tennisarm-Bob verfolgte eine neue Karriere im
Alumni-Büro. Ich konnte ihn mir gut als fröhlichen Händeschüttler vorstellen,
als Naturtalent im Einwerben von Wohlwollen (und Spenden) bei sentimentalen
Favorite-River-Ehemaligen. Eine besondere Begabung bewies Bob dafür, seine
Aufrufe in die Jahrgangsberichte des Alumni-Blättchens der Academy, The River Bulletin, einzuschmuggeln. Er entwickelte einen
sportlichen Ehrgeiz dabei, ehemalige Absolventen aufzuspüren, [506] die keinen
Kontakt mit ihrer alten Schule hielten. (Seine Anfragen nannte er »Hilferufe
aus der Abteilung Wo-seid-ihr-alle?«)
Meine Cousine Gerry hatte mich vorgewarnt, Bob habe seit seinen
vielen Reisen für das Alumni-Büro die Trinkerei »nicht mehr im Griff«, aber ich
betrachtete Gerry als die letzte überlebende Winthrop-Frau – wenn auch eine
verwässerte lesbische Variante dieses eisern dünkelhaften Gen-Cocktails.
(Bestimmt wissen Sie noch, dass ich die Behauptung, Onkel Bob sei Alkoholiker,
immer für übertrieben gehalten hatte.)
Themenwechsel: Bei unserer Rückkehr nach Bancroft Hall stellten
Elaine und ich fest, dass Richard Abbott nicht mehr sprechen konnte und dass
Mr. und Mrs. Hadley nicht miteinander redeten. Die Funkstille zwischen Martha
Hadley und ihrem Mann war für mich nichts Neues; Elaine betrachtete ihre Eltern
schon lange als Scheidungskandidaten. (»Da werden keine verbitterten
Machtkämpfe ausgefochten, Billy – die sind einander eh schon völlig egal«,
hatte Elaine mir gesagt.) Und Richard Abbott hatte mir anvertraut – bevor meine
Mutter starb, als er noch sprechen konnte –, dass er und meine Mom nicht mehr
mit den Hadleys verkehrten.
Elaine und mir hatte dieses rätselhafte »nicht mehr miteinander
verkehren« zu denken gegeben. Natürlich passte es genau zu Elaines zwanzig
Jahre alter Theorie, ihre Mutter sei in Richard Abbott verliebt. Was konnte ich
schon groß zu diesem Gespräch beitragen, der ich in Mrs. Hadley und in Richard verknallt gewesen war?
Ich war schon immer der Meinung gewesen, Richard [507] Abbott sei ein
weitaus besserer Mann, als meine Mutter verdiente, und Martha Hadley eindeutig
zu gut
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