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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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überrascht sein? Aber Richard
Abbott und ich brachten Grandpa Harry gleich in sein Haus in der River Street
zurück, wo er ungestört war, und stellten eine Pflegekraft ein, die rund um die
Uhr für ihn da war. (All das und noch viel mehr sollte in nächster Zeit auf
mich zukommen.)
    O nein!, dachte ich, als Elaine auflegte. Bitte nicht Grandpa Harry!
    Ich bildete mir ein, Elaine hätte meine Gedanken gelesen. »Es ist
deine Mutter, Billy. Deine Mom und Muriel sind bei einem Verkehrsunfall
umgekommen – mit Miss Frost ist nichts«, beeilte sie sich zu versichern.
    »Mit Miss Frost ist nichts«, wiederholte ich, dachte aber: [496]  Wieso
habe ich nie wieder Kontakt zu ihr aufgenommen, in all den Jahren? Es nicht
wenigstens einmal versucht? Warum habe ich sie nie gesucht? Sie muss inzwischen
einundsechzig sein. Auf einmal wunderte ich mich sehr, dass ich Miss Frost seit
siebzehn Jahren weder gesehen noch ein Wort über sie gehört hatte. Nicht einmal
Herm Hoyt hatte ich nach ihr gefragt.
    In dieser bitterkalten Nacht im Februar 1978 in New York, mit knapp
sechsunddreißig, war mir bereits klar: Meine Bisexualität bedeutete, dass
Heterofrauen mich für noch unzuverlässiger als den typischen Heteromann
hielten, während schwule Männer mir (aus den gleichen Gründen) auch nie ganz
trauten.
    Was wohl Miss Frost von mir gehalten hätte?, fragte ich mich; und
ich meinte nicht meine Schriftstellerei. Was hätte sie von meinen Beziehungen
zu Männern und Frauen gehalten? Hatte ich je irgendwen »beschützt«? Wem war ich
je wichtig gewesen? Wie konnte es sein, dass ich mit fast vierzig Jahren
niemanden so sehr liebte wie Elaine? Wieso enttäuschte ich die Erwartungen, die
Miss Frost mit Sicherheit in mich gesetzt hatte? Sie hatte mich beschützt, aber
warum? Hatte sie meine sich anbahnende Promiskuität nur hinausgezögert? Dieses
Wort wird nun mal nicht in positivem Sinne gebraucht, und während schwule
Männer offener als Heteromänner, wenn nicht gar programmatisch promiskuitiv
sind, müssen Bisexuelle mit dem Vorwurf leben, noch promiskuitiver zu sein als alle anderen !
    Wenn Miss Frost mir jetzt begegnete, an wen würde ich sie am ehesten
erinnern? (Ich meine nicht hinsichtlich der Art meiner Partner, sondern was
ihre Anzahl betraf, ganz [497]  zu schweigen von der Oberflächlichkeit dieser
Beziehungen.)
    »Kittredge«, antwortete ich mir selbst. Was für geistige Pirouetten
ich doch drehte – nur um nicht an meine Mutter denken zu müssen! Meine Mutter
war tot, aber ich konnte oder wollte den Gedanken an sie nicht zulassen.
    »Ach Billy, Billy – komm her, komm her. Lass dich nicht in den
Strudel runterziehen, Billy«, sagte Elaine und breitete die Arme aus.
    Das Auto mit meiner Tante Muriel am Steuer war frontal von einem
angetrunkenen Fahrer gerammt worden, der auf der Route 30 in Vermont auf die
Gegenfahrbahn geraten war. Meine Mutter und Muriel fuhren gerade von einem
ihrer samstäglichen Shoppingausflüge in Boston zurück; an diesem Samstagabend
redeten sie wahrscheinlich munter drauflos, als die Wagenladung Skifahrer nach
ihrem Après-Ski die Straße vom Stratton Mountain herunterkam und in
südöstlicher Richtung auf die Route 30 einbog. Meine Mutter und Muriel fuhren
Richtung Nordwesten; irgendwo zwischen Bondville und Rawsonville stießen die
beiden Autos zusammen. Die Schneeverhältnisse waren gut, aber die Route 30 war
knochentrocken und salzverkrustet; es war minus vierundzwanzig Grad, zu kalt
für Schneefall.
    Die Staatspolizei von Vermont gab zu Protokoll, dass meine Mutter
und Muriel sofort tot waren; Tante Muriel war gerade sechzig geworden, meine
Mutter hätte im April ihren achtundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Richard
Abbot war erst achtundvierzig. »Bisschen jung für ’n Witwer«, wie Grandpa Harry
es ausdrückte. Onkel Bob war [498]  auch noch relativ jung für einen Witwer,
nämlich im Alter von Miss Frost: einundsechzig.
    Elaine und ich nahmen einen Mietwagen und fuhren zusammen nach
Vermont. Die ganze Fahrt über stritten wir uns, was ich an dieser Rachel »nur
finden konnte«, die an der Columbia University Kreatives Schreiben
unterrichtete.
    »Du fühlst dich geschmeichelt, wenn dein Werk jungen Autoren gefällt – oder vielleicht merkst du noch gar nicht, wie sie sich an dich ranschmeißen«,
fing Elaine an. »Doch die Zeit mit Larry hat dich wenigstens Vorsicht vor älteren Schriftstellern gelehrt, die sich bei dir einschleimen.«
    »Wahrscheinlich krieg ich nichts davon mit

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