In einer Person
Richard hatten den Sommer Zeit, eine gemeinsame
Bleibe in oder in der Nähe von First Sister zu finden – ein bescheidenes Haus,
etwas, das sich ein Lehrerpaar leisten konnte. Das Haus, das sie fanden, lag in
der River Street, nur ein paar Meter von der ehemaligen Stadtbibliothek von
First Sister entfernt, wo heute der Geschichtsverein untergebracht ist. In den
letzten Jahren hatte das Haus etliche Besitzerwechsel erlebt und konnte ein
paar Reparaturen vertragen, wie mir Richard leicht stockend am Telefon gestand.
Ich spürte sein Zögern; falls er Geld brauchte, hätte ich [543] ihm
gern gegeben, was ich nur konnte, war aber überrascht, dass Richard nicht
zuerst Grandpa Harry gefragt hatte. Harry mochte Richard sehr, und ich wusste,
dass Grandpa Harry dem Zusammenleben von Richard und Martha Hadley seinen Segen
erteilt hatte.
»Von dem Haus sind es zu Fuß gerade mal zehn Minuten bis zu Grandpa
Harrys Haus, Bill«, sagte Richard am Telefon. Ich merkte, dass er nicht recht
mit der Sprache herauswollte.
»Worum geht’s denn, Richard?«, fragte ich ihn.
»Es ist das ehemalige Haus der Frosts, Bill«, sagte Richard.
Angesichts seiner Vorgeschichte mit den vielen und unsoliden Besitzern war uns
beiden klar, dass gewiss keine Spuren von Miss Frost mehr vorhanden waren. Miss
Frost war über alle Berge – das wusste Richard Abbott so gut wie ich. Doch das
»ehemalige Haus der Frosts« eröffnete einen Blick zurück in finstere Zeiten –
in eine vergangene Finsternis, wie ich damals
glaubte. Ich sah keine zukünftige Finsternis, die
ihre Schatten vorauswarf.
Meine zweite Vorwarnung, dass eine Seuche im Anmarsch war, bekam
ich schlicht nicht mit. 1980 war keine Weihnachtskarte von Familie Atkins
gekommen, doch es war mir nicht aufgefallen. Als dann doch eine Karte kam – und
zwar lange nach Neujahr, aber nichtsdestotrotz mit dem Spruch »Frohe Festtage« –, wunderte ich mich, dass Tom keine Rezension meines vierten Romans beigefügt
hatte. (Das Buch war zwar noch nicht erschienen, doch ich hatte Atkins eine
Kopie der Druckfahnen geschickt; ich fand, ein so treuer Fan meiner Bücher
hatte ein Vorabexemplar [544] verdient. Wer sonst verglich mich immer wohlwollend
mit Flaubert!)
Doch diesmal lag der Weihnachtskarte nichts bei, als sie irgendwann
(vermutlich im Februar 1981) eintraf. Mir fiel auf, dass die Kinder und der
Hund älter aussahen, und erst recht, wie viel älter der arme Tom; man hätte
meinen können, er wäre zwischen zwei Weihnachtsfesten um mehrere Jahre
gealtert.
Wahrscheinlich war das Foto während eines Skiurlaubs mit der Familie
aufgenommen worden – alle trugen Skiklamotten, Atkins außerdem eine Skimütze.
Sie hatten zum Skifahren sogar den Hund mitgenommen!, staunte ich.
Die Kinder sahen braungebrannt aus – die Frau auch. Ich wusste noch,
wie hell Toms Haut war, er musste sich bestimmt wegen der Sonne vorsehen;
deshalb fiel mir nicht weiter auf, dass Tom nicht gebräunt war. (So wie ich
Atkins kannte, hatte er bestimmt die ersten Hautkrebswarnungen beherzigt und
eine dicke Schicht Sonnencreme aufgetragen – er hatte schon als Jugendlicher
jede Warnung beherzigt.)
Aber Toms Hautfarbe hatte etwas Silbriges, wie ich fand – nicht dass
ich viel von seinem Gesicht sehen konnte, weil Atkins’ blöde Skimütze ihm bis
über die Augenbrauen reichte. Dennoch fiel mir auf, dass Tom abgenommen hatte.
Und zwar ziemlich viel abgenommen, wie mir schien,
obwohl ich es wegen der Skikleidung nicht genau sehen konnte. Vielleicht war
Atkins schon immer ein wenig hohlwangig gewesen.
Irgendwie konnte ich den Blick nicht von dieser verspäteten
Weihnachtskarte abwenden. Der Gesichtsausdruck [545] von Toms Frau war ebenfalls
neu: Wie konnte man mit einem einzigen Gesichtsausdruck den Eindruck
vermitteln, dass man sich gleichzeitig vor dem Unbekannten und dem Bekannten fürchtete?
Bei Mrs. Atkins’ Miene musste ich an das Zitat aus Madame Bovary denken – es steht am Ende des sechsten
Kapitels. (Das wie ein Pfeil mitten ins Schwarze trifft oder in das Herz des
Lesers – »jetzt konnte sie sich nicht vorstellen, dass die Ruhe, in der sie
dahinlebte, das erträumte Glück sei«.) Toms Frau sah nicht nur ängstlich aus –
sie schien entsetzliche Angst zu haben! Doch was
mochte sie nur so in Angst und Schrecken versetzt haben?
Und wo war das Lächeln, das der Tom Atkins, den ich kannte, nur
selten lange unterdrücken konnte? Atkins lächelte meist mit offenem Mund, was
irgendwie belämmert aussah
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