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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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eigenen Pfleger. Für mich war das damals alles neu – da Russell
beschlossen hatte, sich nicht an ein Beatmungsgerät anschließen zu lassen,
konnte er sich zu Hause pflegen lassen. (Zu Hause intubiert zu werden, ist
problematisch; es ist einfacher, jemanden in einem Krankenhaus an ein Beatmungsgerät
anzuschließen.) Bei anderen sah ich (daran erinnere mich bis heute) diesen
Klumpen Xylocain-Gel am Ende des Endotrachealtubus, aber nicht bei Russell; er
wurde nicht intubiert, nicht zu Hause.
    Ich weiß noch, wie Larry Russell fütterte. Ich sah die verkäsenden
Candida-Flecken in Russells Mund und seine weißverpilzte Zunge.
    Russell war ein schöner junger Mann gewesen; bald würde sein Gesicht
von den Läsionen des Kaposisarkoms entstellt sein. Eine lila Läsion baumelte
von einer Augenbraue Russells herab, wie ein fleischiges, deplatziertes
Ohrläppchen; eine andere lila Läsion hing an Russells Nase. (Letztere war
dermaßen auffällig, dass Russell sich später entschied, sie hinter einem
Halstuch zu verbergen.) Larry erzählte mir, dass Russell sich selbst den
»Truthahn« nannte – wegen der durch das Kaposisarkom verursachten Läsionen.
    [549]  »Warum sind sie nur so jung, Bill?«, fragte Larry mich immer
wieder – als »sie«, die Unmengen sterbender junger Männer in New York, uns vor
Augen führten, dass Russell nur der Anfang war.
    Wir sahen mit an, wie Russell in nur wenigen Monaten alterte – seine
Haare dünnten aus, die Haut wurde bleigrau, häufig war er von einem beim
Anfassen kalten Schweißfilm bedeckt, und seine Fieberschübe nahmen kein Ende.
Der Candida-Pilz wanderte seinen Hals hinunter in die Speiseröhre; Russell
hatte Schluckbeschwerden, seine Lippen waren weiß verkrustet und rissig. Die
Lymphknoten in seinem Hals schwollen an. Russell konnte kaum atmen, wollte aber
nicht an ein Beatmungsgerät
angeschlossen werden (oder in ein Krankenhaus gehen); am Ende tat er so, als
würde er das Bactrim einnehmen – Larry fand später die Tabletten in Russells
Bett verstreut.
    Russell starb in Larrys Armen; zweifellos wünschte sich Larry, sie
hätten die Rollen tauschen können. (»Er war leicht wie eine Feder«, sagte
Larry.) Zu der Zeit besuchten Larry und ich bereits Freunde im St. Vincent’s
Hospital. Wie von Larry vorhergesagt, wurde es im St. Vincent’s so voll, dass
man keinen Freund oder früheren Geliebten besuchen konnte, ohne einen anderen
Bekannten zu treffen. Man sah durch eine offene Tür, und da lag jemand, von dem
man nicht wusste, dass er krank war; bei mehr als einer Gelegenheit, behauptete
Larry, habe er jemanden entdeckt, von dem er nicht mal wusste, dass er schwul war!
    Frauen fanden heraus, dass ihre Gatten was mit Männern hatten – aber
erst, als ihre Ehemänner im Sterben lagen. Eltern erfuhren, dass ihre Söhne
starben, ehe sie wussten [550]  (oder dahintergekommen waren), dass ihre Jungs
schwul waren.
    Nur wenige Freundinnen von mir waren infiziert – nicht viele. Ich
hatte eine Heidenangst um Elaine; sie hatte mit einigen, wie ich wusste,
bisexuellen Männern geschlafen. Doch zwei Abtreibungen hatten Elaine gelehrt,
auf Kondombenutzung zu bestehen; ihrer Ansicht nach konnte nichts anderes
verhindern, dass sie schwanger wurde.
    Wir hatten uns schon früher über Kondome unterhalten; als die
Aidsepidemie ausbrach, hatte Elaine mich gefragt: »Du benutzt doch immer noch
Kondome – oder, Billy?« (Seit 1968!, hatte ich ihr geantwortet.)
    »Eigentlich müsste ich tot sein«, sagte
Larry. Er war nicht krank, er sah prima aus. Ich war auch nicht krank. Wir
drückten einander die Daumen.
    Es war noch 1982, gegen Ende des Jahres, als es zu dem
Nasenbluten-Zwischenfall im Ringerraum des New York Athletic Club kam. Ich bin
mir nicht sicher, ob alle Ringer wussten, dass der Aidsvirus hauptsächlich
durch Blut und Sperma übertragen wird, denn zu der Zeit hatten
Krankenhausmitarbeiter noch Angst, sich von einem Husten oder Niesen
anzustecken. Doch an dem Tag, als ich im Ringerraum Nasenbluten bekam, wusste
jeder bereits genug, um eine Scheißangst vor Blut zu haben.
    Beim Ringen passiert so was häufig: Man weiß erst, dass man blutet,
wenn man sein Blut auf dem Gegner sieht. Ich trainierte mit Sonny; als ich auf
Sonnys Schulter Blut sah, rückte ich von ihm ab. »Du blutest –«, fing ich an;
dann sah ich Sonnys Miene. Er stierte auf meine blutende Nase. Ich führte die
Hand zum Gesicht und sah das Blut – auf meiner [551]  Hand, auf meinem Oberkörper,
auf der Matte.

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