In einer Person
– man sah jede Menge Zähne und die Zunge. Doch auf
diesem Foto hielt der arme Tom den Mund fest geschlossen – wie ein kleiner
Junge, der sein Kaugummi vor der Lehrerin verbergen will, oder wie jemand, der
weiß, dass er Mundgeruch hat.
Aus irgendeinem Grund zeigte ich das Foto Elaine. »Du erinnerst dich
doch an Atkins«, sagte ich und gab ihr die verspätete Weihnachtskarte.
»Armer Tom«, sagte Elaine automatisch; wir lachten beide, aber
Elaine hörte auf zu lachen, als sie sich das Foto ansah. »Was ist mit ihm – was
hat er im Mund ?«, fragte sie.
»Keine Ahnung«, sagte ich.
»Er hat irgendwas im Mund, Billy – und er will nicht, dass es jemand
sieht«, sagte Elaine zu mir. »Und was ist mit den Kindern los?«
[546] »Mit den Kindern ?«, wiederholte ich.
Mir war gar nicht aufgefallen, dass mit den Kindern irgendwas nicht stimmte.
»Sie sehen aus, als hätten sie geweint«, erläuterte Elaine. » O Gott – sieht so aus, als würden sie andauernd weinen!«
»Zeig mal«, sagte ich und nahm das Foto. Die Kinder wirkten auf mich
ziemlich unauffällig. »Atkins hat schon immer viel geweint«, sagte ich. »Er war
eine richtige Heulsuse – vielleicht haben die Kinder das von ihm geerbt.«
»Also echt, Billy – da ist irgendwas nicht normal. Bei ihnen allen,
meine ich«, sagte Elaine.
»Der Hund sieht normal aus«, sagte ich. (Ich alberte nur herum.)
»Ich rede nicht von dem Hund, Billy«, sagte Elaine.
Falls Sie während der Reagan-Jahre (1981–89) nicht miterleben
mussten, wie jemand, den Sie kannten, an Aids starb, dann haben Sie an diese
Jahre andere Erinnerungen als ich. Was war das für ein Jahrzehnt – und den
Großteil dieser Zeit war dieser reitende B-Movie-Schauspieler der Oberboss! (In
sieben der acht Jahre seiner Präsidentschaft nahm Reagan den Begriff Aids nicht ein einziges Mal in den Mund.) Die Erinnerung an
diese Jahre ist im Laufe der Zeit immer verschwommener geworden, auch weil man – bewusst oder unbewusst – die schlimmsten Details verdrängt. Manche Jahrzehnte
huschen vorbei, andere ziehen sich wie Kaugummi; die achtziger Jahre wollten
und wollten kein Ende nehmen, weil immer mehr meiner Freunde und Liebhaber
starben – noch bis in die Neunziger und danach. Bis 1995 waren – allein in New
York – mehr Amerikaner an Aids gestorben als im Vietnamkrieg.
[547] Einige Monate nach dem Gespräch, das Elaine und ich im Februar
über das Foto der Atkins-Familie führten – es war auf jeden Fall später im Jahr
1981 –, erkrankte Larrys junger Geliebter Russell. (Ich fühlte mich
schrecklich, weil ich Russell als Wall-Street-Typen abgetan hatte; außerdem
hatte ich ihn als Dichterjüngling bezeichnet.)
Ich war ein Snob; damals rümpfte ich die Nase über die Gönner, mit
denen sich Larry umgab. Aber Larry war ein Dichter – und Dichter verdienen kein
Geld. Warum sollten Dichter und andere Künstler keine Gönner haben?
PCP hieß der große Killer – eine
Lungenentzündung (die durch den Erreger Pneumocystis jirovecii hervorgerufene
Pneumocystis-Pneumonie). Wie so oft war auch im Fall des jungen Russell diese
Lungenentzündung die erste Manifestation von Aids gewesen. Er war ein junger
und ansonsten gesund aussehender Mann, der nun plötzlich fiebrigen Husten hatte
und kurzatmig war. Die Röntgenaufnahme sah nicht so toll aus – ein sogenannter
»Whiteout« im Jargon der Radiologen und Ärzte. Man dachte zunächst nicht an
diese Krankheit. Zuerst gab es die Phase, in der es dem Patienten trotz
Verabreichung von Antibiotika nicht besserging. Erst später machte man eine
Biopsie (oder Bronchialspülung), die ergab, dass die PCP (diese heimtückische Lungenentzündung) die Ursache für die Symptome war.
Gewöhnlich verabreichten sie einem Bactrim; das bekam auch Russell. Russell war
der erste Aids-Patient, den ich dahinsiechen sah – und wohlgemerkt, Russell
hatte Geld, und er hatte Larry.
Viele Schriftsteller, die Larry kannten, hielten ihn für verzogen
und egoistisch, ja sogar für aufgeblasen. Zu [548] meiner Schande zähle ich auch
mein früheres Ich zu dieser Kategorie der Lawrence-Upton-Kritiker. Doch Larry
war einer der Menschen, die an einer Krisensituation wachsen.
»Eigentlich sollte ich an seiner Stelle
sein, Bill«, sagte mir Larry, als ich Russell das erste Mal besuchte. »Ich habe
ein Leben gelebt – Russell steht noch am Anfang seines Lebens.« Russell wurde
in seinem eigenen herrlichen Stadthaus in Chelsea in Hospizpflege betreut; er
hatte einen
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