In einer Person
aus: Soeben war Tom Atkins gestorben; selbst jetzt dachten
Elaine und ich an Kittredge.
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Keines natürlichen Todes
Wenn ich an Tom Atkins’ überzogene Erwartungen an unsere
gar so viele Sommer zurückliegende, ach-so-jugendliche Affäre denke, bin ich
immer noch sprachlos. Selbst auf seinem Sterbelager hatte der arme Tom nicht
mit Wunschdenken aufgehört. Er sah in mir einen geeigneten Ersatzvater für
seinen Sohn Peter – ein völlig abwegiger Gedanke, aus dem, wie selbst dieser
liebenswerte Fünfzehnjährige wusste, nie im Leben etwas werden würde.
Zu Charles, dem Pfleger der Familie Atkins, hielt ich noch fünf oder
sechs Jahre Kontakt – mehr nicht. Von ihm erfuhr ich, dass Peter Atkins nach
Lawrenceville kam, bis 1987 (ein oder zwei Jahre nach Peters Abschluss) noch
eine reine Knabenschule. Verglichen mit vielen Privatgymnasien in New England
(wie auch der Favorite River Academy) wurden in Lawrenceville erst sehr spät
auch Mädchen zugelassen.
O Mann, ich konnte nur hoffen, dass Peter nicht (mit den Worten
seines armen Vaters) einer »wie wir« war.
Anschließend kam Peter nach Princeton, etwa acht Kilometer nordöstlich
von Lawrenceville. Als mein Zusammenwohnen mit Elaine in San Francisco
gescheitert war, zogen wir beide nach New York zurück, und Elaine übernahm im
darauffolgenden akademischen Jahr 1987/88 einen [593] Lehrauftrag in Princeton an,
als Peter Atkins dort studierte. Im Frühjahr 1988 nahm er an ihrem
Schreibseminar teil; inzwischen war er Anfang zwanzig. Elaine meinte, dass er
im Hauptfach etwas mit Wirtschaft studierte, aber die Hauptfächer ihrer
Studenten waren ihr immer egal.
»Er hatte kein Talent zum Schreiben«, sagte sie mir, »aber
wenigstens machte er sich keine Illusionen.«
Peters Kurzgeschichten handelten alle vom Selbstmord seiner jüngeren
Schwester Emily mit siebzehn oder achtzehn.
Charles hatte mir kurz danach davon berichtet. Emily sei schon immer
ein »sehr schwieriges« Mädchen gewesen, schrieb er mir. Toms Frau Sue wiederum
starb erst achtzehn Monate nach ihrem Mann; sofort nach seinem Tod hatte sie
Charles durch eine andere Pflegekraft ausgetauscht.
»Ich kann verstehen, dass Sue sich nicht von einem schwulen Mann
pflegen lassen wollte«, meinte Charles dazu.
Ich hatte Elaine gefragt, ob sie Peter Atkins für schwul hielt.
»Nein«, hatte sie geantwortet. »Ganz sicher nicht.« Und tatsächlich trat
irgendwann in den späten neunziger Jahren – ein paar Jahre nach dem Höhepunkt
der Aidsepidemie – nach einer Lesung von mir in New York ein rothaariger junger
Mann mit frischer Gesichtsfarbe (und attraktiver junger Begleiterin) bei der
anschließenden Signierstunde an mich heran. Damals muss Peter Atkins Anfang dreißig
gewesen sein, aber ich erkannte ihn sofort. Er sah Tom immer noch ähnlich.
»Wir haben uns extra eine Babysitterin besorgt – was wir ziemlich
selten tun«, sagte seine Frau mit einem Lächeln.
[594] »Wie geht es dir, Peter?«, fragte ich ihn.
»Ich hab alle deine Bücher gelesen«, versicherte mir der junge Mann.
»Deine Romane standen für mich sozusagen in loco parentis. «
Die lateinischen Worte sprach er langsam aus. »Sie wissen schon, ›anstelle
eines Elternteils‹ – sozusagen«, erklärte der junge Atkins.
Wir lächelten einander nur an; mehr gab es nicht zu sagen.
Er hatte es gut gesagt, fand ich. Sein Vater wäre glücklich gewesen,
wie sich sein Sohn entwickelte – jedenfalls so glücklich, wie der arme Tom je
sein konnte. Tom Atkins und ich waren zu einer Zeit aufgewachsen, in der wir
uns wegen unserer sexuellen Abweichungen in Selbsthass ergingen, weil man uns
eingetrichtert hatte, diese Abweichungen wären falsch. Im Nachhinein schäme ich
mich, dass ich gehofft hatte, Peter Atkins möge nicht wie Tom werden – oder wie ich. Vielleicht hätte ich für jemanden aus Peters
Generation gerade hoffen sollen, dass er »wie wir« wäre – und stolz darauf.
Wenn man allerdings das Ende seiner Eltern bedenkt, versteht es sich von
selbst, dass ich fand, Peter Atkins habe schon genug durchgemacht.
Ich sollte einen kurzen Nachruf auf die First Sister Players
verfassen, die konstant laienhafte Schauspieltruppe meiner Heimatstadt. Mit dem
Tod Nils Borkmans und dem nicht minder gewaltsamen Abgang der Souffleuse dieses
kleinen Theaters (meiner Mutter Mary Marshall Abbott) – ganz zu schweigen von
dem meiner Tante Muriel Marshall Fremont, die unser Städtchen in diversen
stimmgewaltigen, vollbusigen Rollen zu
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