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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Begeisterungsstürmen hingerissen hatte –, [595]  traten die First Sister Players einfach ab. In den achtziger Jahren
wurden selbst in Kleinstädten aus den alten Theatern Kinosäle; die Leute
wollten Filme sehen.
    »Bestimmt hocken sogar noch mehr Leute hinterm Ofen und gucken in
die Röhre«, bemerkte Grandpa Harry dazu. Harry Marshall hockte selber »hinterm
Ofen«; seine Bühnenerfolge als Frau waren längst
Vergangenheit.
    Richard rief mich an, nachdem Elmira Grandpa Harrys Leiche gefunden
hatte.
    »Nie wieder reinigen, Elmira«, hatte Harry gesagt, als er sah, wie
die Pflegerin Nana Victorias saubere Kleider in den Schrank hängte.
    »Ich muss mich verhört haben«, sollte Elmira später Richard
erklären. »Ich hab gedacht, er hätt gesagt: › Bloß nicht wieder reinigen, Elmira‹ – so als würd er mich aufziehen, wissen Sie? Aber
jetzt bin ich mir ziemlich sicher, dass er gesagt hat ›Nie wieder reinigen,
Elmira‹ – so als hätt er da schon gewusst, was er vorhatte.«
    Aus Rücksicht auf seine Pflegerin hatte sich Grandpa Harry als der
alte Holzfäller angezogen, der er war – Jeans, ein Flanellhemd, »nichts
Nobles«, wie Elmira sagen würde –, und als er sich in der Badewanne auf die
Seite gelegt hatte, so wie sich ein Kind zum Schlafen legt, hatte er es
irgendwie geschafft, sich mit dem Mossberg .30-30 so in die Schläfe zu
schießen, dass das meiste Blut in der Wanne landete; was trotzdem noch die
Badezimmerfliesen bespritzt hatte, strapazierte Elmiras Putzkünste nicht
übermäßig.
    Grandpa Harrys Nachricht auf meinem Anrufbeantworter am Vorabend
hatte sich genau wie sonst angehört. [596]  »Brauchst mich nicht zurückrufen, Bill – ich hau mich etwas früher aufs Ohr. Wollte bloß mal hören, ob bei dir alles
klar ist.«
    An diesem Abend – es war November 1984, kurz vor Thanksgiving –
klang die Nachricht auf Richard Abbotts Anrufbeantworter so ähnlich, jedenfalls
was das »etwas früher aufs Ohr hauen« anging. Richard war mit Martha Hadley in
die Stadt ins Kino gegangen, in das ehemalige Theater der First Sister Players.
Nur das Ende der Nachricht unterschied sich etwas von meiner. »Meine Mädchen
fehlen mir, Richard«, hatte Grandpa Harry gesagt. (Bevor er sich in die
Badewanne hineingelegt und den Abzug gezogen hatte.) Harold Marshall war Ende
neunzig – nur ein bisschen früh, um sich aufs Ohr zu
hauen.
    Richard Abbott und Onkel Bob wollten aus diesem Thanksgivingfest
eine Gedenkfeier für Grandpa Harry machen, aber Harrys sämtliche Altersgenossen
wohnten – so sie noch am Leben waren – in der Einrichtung für betreutes Wohnen
(und leisteten uns nicht beim Thanksgiving-Essen im Haus an der River Street
Gesellschaft).
    Elaine und ich reisten gemeinsam aus New York an; Larry nahmen wir
mit. Er war sechsundsechzig, derzeit solo, und Elaine und ich machten uns
Sorgen um ihn. Seine HIV -Testergebnisse waren
zwar immer noch negativ, aber er wirkte trotzdem erschöpft; Elaine und ich
hatten uns darüber unterhalten. Sie hatte sogar gesagt, das Aidsvirus würde
Larry umbringen – »auf andere Art«.
    Ich war froh, Larry auf der Fahrt dabeizuhaben. Es hielt Elaine
davon ab, sich Geschichten über die Leute auszudenken, mit denen ich gerade
etwas hatte, ob Mann oder [597]  Frau. So entgingen einige der Verleumdung, sie
würden ins Bett kacken.
    Richard hatte ein paar ausländische Schüler der Favorite River
Academy zu unserem Familienessen eingeladen: zwei Koreanerinnen und einen
einsam wirkenden Japaner, die nicht mal eben schnell über die Feiertage nach
Hause reisen konnten. Alle anderen kannten sich untereinander – bis auf Larry,
der das erste Mal in Vermont war.
    Obwohl Grandpa Harrys Haus an der River Street praktisch in der
Stadtmitte und nicht weit vom Favorite River Campus entfernt lag, kam First
Sister Larry wie eine »Wildnis« vor. Was mochte er da von den Wäldern und
Feldern drum herum halten? Die Jagdsaison für Rotwild hatte begonnen, so dass
immer wieder Schüsse knallten. (Eine » barbarische Wildnis«, so nannte Larry Vermont.)
    Mrs. Hadley und Richard erledigten die Küchenarbeiten, mit Hilfe von
Gerry und deren neuer Freundin Helena – einer quirligen Plaudertasche, die erst
kürzlich ihren Mann verlassen und sich geoutet hatte, obwohl sie in Gerrys
Alter war (fünfundvierzig) und zwei große, über zwanzigjährige »Kids« hatte,
die die Feiertage bei ihrem Vater verbrachten.
    Erstaunlicherweise verstanden sich Larry und Onkel Bob auf Anhieb
gut –

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