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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Rausschmeißer im Mineshaft verwechselt hatte; Charles
hatte einiges von dessen lässig-überlegenem Auftreten.)
    »Nein, nein, nein!«, hörten wir Peter aus der Küche rufen. Emily
hatte aufgehört zu schreien, genau wie ihre Mom.
    Für einen Dezember in New Jersey war Charles der Jahreszeit
unangemessen gekleidet, bei dem knappen schwarzen T-Shirt sah man seine Muskeln
und Tätowierungen.
    »Ich hatte nicht den Eindruck, dass ihm der Sauerstoff half«, sagte
ich zu Charles.
    »Er half nur ein wenig. Bei PCP liegt
das Problem darin, dass sie streut, sie befällt beide Lungenflügel und hemmt den Übergang des Sauerstoffs in die Blutgefäße und somit
in den Körper«, erklärte der Pfleger.
    »Tom hatte so schrecklich kalte Hände«, sagte Elaine.
    »Tommy wollte nicht an das Beatmungsgerät angeschlossen werden«,
fuhr Charles fort; offenbar war er mit dem [586]  Hickman-Katheter fertig. Er wusch
die verkrusteten Candida-Beläge von dem Bereich um Atkins’ Mund ab. »Ich will
ihn sauber machen, ehe Sue und die Kinder ihn sehen«, sagte er.
    »Und Mrs. Atkins, ihr Husten?«, fragte ich. »Der wird schlimmer werden, stimmt’s?«
    »Es ist ein trockener Husten, manchmal gar kein Husten. Man reitet immer zu sehr auf dem Husten herum. Was schlimmer wird, ist
die Kurzatmigkeit«, sagte mir der Pfleger. »Tommy ging einfach die Luft aus.«
    »Charles, wir wollen ihn sehen !«, rief
Mrs. Atkins.
    »Nein, nein, nein«, rief Peter wieder.
    »Ich hasse dich, Charles!«, schrie Emily
aus der Küche.
    »Das weiß ich doch, Süße!«, schrie Charles zurück. »Gebt mir nur
noch ein bisschen Zeit, ihr drei!«
    Ich beugte mich über Atkins und küsste ihn auf die nasskalte Stirn.
»Ich habe ihn unterschätzt«, sagte ich zu Elaine.
    »Jetzt nicht weinen, Billy«, sagte Elaine.
    Ich verspannte mich plötzlich, weil ich dachte, Charles würde mich
umarmen oder küssen – oder mich vielleicht auch nur von dem erhöhten Bett
wegschubsen –, doch er wollte mir lediglich seine Visitenkarte in die Hand
drücken. »Rufen Sie mich an, William Abbott – lassen Sie mich wissen, ob Peter
Kontakt zu Ihnen aufnehmen darf, falls er das will.«
    »Falls er das will«, wiederholte ich und nahm die Karte des
Pflegers.
    Wenn mich jemand als »William Abbott« ansprach, wusste ich
gewöhnlich, dass es sich um einen Leser oder eine Leserin handelte – oder dass
diese Person wenigstens [587]  wusste, dass ich »der Schriftsteller« war. Bei Charles
war ich mir nur sicher, dass er schwul war, ob er auch ein Leser war, entzog sich meiner Kenntnis.
    »Charles!«, rief Sue Atkins atemlos.
    Elaine, ich und Charles betrachteten den armen Tom. Ich kann nicht
behaupten, dass Tom Atkins »friedlich« aussah, doch er erholte sich von den
furchtbaren Anstrengungen seiner Atemversuche.
    »Nein, nein, nein«, rief sein geliebter Sohn, wenn auch jetzt
leiser.
    Elaine und ich sahen, wie Charles plötzlich Richtung Türöffnung
schaute. »Ach, du bist es, Jacques«, sagte der
Pfleger. »Ist in Ordnung – du darfst reinkommen. Na
komm.«
    Elaine und ich zuckten beide zusammen. Bestimmt sah man uns an, dass
wir an einen anderen Jacques dachten, der gekommen war, um sich von Tom Atkins
zu verabschieden. Doch in der Tür stand nicht der Schack, den Elaine und ich erwartet hatten. Sollten wir beide wirklich zwanzig Jahre
lang darauf gewartet haben, Kittredge wiederzusehen?
    In der Tür stand der alte Hund, unsicher, ob er den nächsten
arthritischen Schritt machen sollte.
    »Na komm schon, Junge«, sagte Charles, worauf Jacques in das
ehemalige Arbeitszimmer seines ehemaligen Herrchens humpelte. Charles hob eine
von Toms kalten Händen von der Seite des Bettes, und der alte Labrador drückte
seine kalte Nase dagegen.
    In der Tür warteten noch andere, um sich von Tom zu verabschieden.
Elaine und ich traten von Toms Bett [588]  zurück. Sue Atkins schenkte mir ein
mattes Lächeln. »Wie schön, dass ich Sie endlich kennengelernt habe«, sagte die
todkranke Frau. »Lassen Sie den Kontakt nicht abreißen.« Wie zwanzig Jahre
zuvor Toms Vater gab sie mir nicht die Hand.
    Peter würdigte mich keines Blickes; er lief zu seinem Vater und
schlang die Arme um den ausgezehrten Körper. Emily warf Elaine einen (wenn auch
flüchtigen) Blick zu; dann sah sie Charles an und kreischte los. Der alte Hund
hockte einfach nur da, wie er in der Küche dagehockt hatte – erwartungslos.
    Auf dem Weg durch den Flur, durch die Diele (wo mir jetzt erst ein
nicht geschmückter

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