In einer Person
vielleicht, weil Larry genau im selben Alter war, in dem Tante Muriel
gewesen wäre, wenn sie nicht mit meiner Mutter bei dem Unfall ums Leben
gekommen wäre. Außerdem unterhielt sich Larry nur zu gern mit Richard Abbott
über Shakespeare. Ich genoss es, den beiden zuzuhören, und fühlte mich auf
gewisse Weise in meine Jugend im Theaterclub der Favorite River Academy [598] zurückversetzt – als zöge eine Kindheitsphase vor meinem inneren Auge vorüber.
Seit es auch Schülerinnen auf Favorite River gab, erklärte Richard
Abbott Larry gerade, unterscheide sich die Rollenbesetzung der
Theaterclub-Stücke doch sehr von derjenigen eines reinen Knabeninternats. Ihm
sei es immer gegen den Strich gegangen, weibliche Rollen mit Jungen zu
besetzen, sagte Richard; Grandpa Harry, der zwar kein »Junge« gewesen sei,
dafür aber als Frau ideal besetzt, sei eine Ausnahme
gewesen (wie auch Elaine und eine Handvoll andere Lehrertöchter). Doch jetzt,
da er unter Jungen und Mädchen wählen konnte,
beklagte Richard, was viele Theaterregisseure in Schulen – sogar an Colleges –
mir heutzutage häufig sagen: Mädchen interessieren sich mehr für Theater; es
gibt immer mehr Mädchen. Und nicht genug Jungen zur Besetzung der männlichen
Rollen; und man muss Stücke mit mehr Frauenrollen für all die vielen Mädchen
suchen, weil fast immer mehr Schauspielerinnen als Rollen vorhanden sind.
»Shakespeare hatte keine Probleme mit Geschlechtertausch, Richard«,
sagte Larry provokant. »Warum sagen Sie Ihren Theater-Kids nicht, dass Sie in
den Stücken mit überwiegend männlichen Rollen diese komplett mit Mädchen
besetzen und die Frauenrollen mit Jungen? Das hätte Shakespeare bestimmt sehr
gefallen!« (Zweifellos hätte es Larry sehr gefallen.
Larry sah die Welt, einschließlich Shakespeare, nur aus der Genderperspektive.)
»Das ist eine sehr interessante Idee«, erwiderte Richard Abbott.
»Aber hier geht es um Romeo und Julia. « (Das musste
also Richards nächstes Shakespeare-Stück sein, riet [599] ich.) »In dem Stück gibt
es lediglich vier weibliche Rollen, von denen nur zwei tragend sind«, fuhr
Richard fort.
»Jaja – ich weiß«, spreizte sich Larry. »Da wären Lady Montague und
Lady Capulet – die unwichtig sind, wie Sie sagen. Bleiben nur Julia und ihre
Amme, gegen mindestens zwanzig Männer !«
»Es ist verlockend, die Jungs als Frauen zu besetzen, und
umgekehrt«, räumte Richard ein, »aber es sind Teenager, Larry. Wo finde ich
einen Jungen, der den Mut hat, die Julia zu spielen?«
»Ah…«, machte Larry und verstummte. (Darauf wusste nicht einmal
Larry eine Antwort.) Ich weiß noch, wie ich dachte, dass das nicht mein Problem
war; ich hatte andere Sorgen.
Grandpa Harry hatte mir sein Haus an der River Street vermacht. Was
fing ich mit einem Haus mit fünf Schlaf- und sechs Badezimmern in Vermont an?
Richard hatte mir geraten, es zu behalten. »Wenn du es später
verkaufst, bekommst du mehr dafür, Bill«, sagte er. (Grandpa Harry hatte mir
auch etwas Geld vermacht; das zusätzliche Geld aus dem Verkauf seines Hauses
brauchte ich nicht – jedenfalls noch nicht.)
Martha Hadley versprach, eine Auktion für die überflüssigen Möbel zu
organisieren. Harry hatte Onkel Bob und Richard Abbott etwas Geld vererbt; das
meiste ging an Gerry – als Entschädigung für ihren Anteil am Haus.
Es war mein Geburtshaus, das Haus, in dem ich groß wurde, bis meine
Mutter Richard geheiratet hatte und wir in die Lehrerwohnung umgezogen waren.
Grandpa Harry hatte zu Richard gesagt: »Dieses Haus sollte Bill gehören. [600] Einem
Schriftsteller macht es bestimmt nichts aus, mit Gespenstern zusammenzuwohnen –
die kommen Bill doch gerade recht, was?«
Ich war den Gespenstern noch nicht begegnet und wusste nicht, ob sie
mir gerade recht kamen. An diesem Thanksgiving-Wochenende konnte ich mir nicht
so recht vorstellen, was mich je im Leben dazu verleiten sollte, in First
Sister zu wohnen. Aber ich dachte mir, dass die Entscheidung ja keine Eile
hatte; ich wollte das Haus zunächst einmal behalten.
Die Gespenster scheuchten Elaine von ihrem in mein Zimmer – gleich
in der ersten Nacht, die wir im Haus an der River Street verbrachten. Ich lag
in meinem alten Kinderzimmer, als Elaine zur Tür hereinschoss und unter meine
Decke kroch. »Ich weiß nicht, wofür sich diese Frauen halten«, sagte sie. »Aber
ich weiß, dass sie tot sind, und das nervt sie gewaltig.«
»Okay«, antwortete ich. Ich schlief gern neben Elaine,
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