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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sehen.
    »Wozu brauchst du ein Gewehr, Billy?«, fragte mich Larry.
    »Ich weiß, dass du Geheimnisse magst«, sagte Elaine. »Du kannst sie
nur nicht für dich behalten.«
    Elaine hatte nicht viele Geheimnisse vor mir, aber wenn sie eines
hatte, konnte sie es gut für sich behalten – im Gegensatz zu mir.
    Ich konnte sehen, dass Elaine wusste, warum ich das Mossberg .30-30
nicht hergeben wollte. Larry wusste es auch; er sah mich mit gekränkter Miene
an – als würde er mir (ohne Worte) sagen: »Wie kannst du nur auf den Gedanken
kommen, dich nicht von mir umsorgen zu lassen – wie
kannst du nicht in meinen Armen sterben wollen, wenn
du je stirbst? Wie kommst du bloß darauf, dich davonstehlen und erschießen zu
wollen, falls du krank wirst?« (Das alles lag in Larrys stummem Blick.)
    Elaine sah mich genauso gekränkt an.
    [607]  »Wie du meinst, Bill«, sagte Richard; auch er schaute gekränkt
drein – selbst Mrs. Hadley schien enttäuscht von mir.
    Nur Gerry und Helena achteten nicht mehr auf uns; sie befummelten
sich unter dem Tisch. Offenbar hatte die Vaginaerörterung sie vom Ende unseres
Thanksgiving-Essens abgelenkt. Die Koreanerinnen flüsterten wieder auf
Koreanisch miteinander, während sich Fumi etwas in sein Heft notierte, das kaum
größer als seine Handfläche war. (Vielleicht das Wort Mossberg, damit er es im nächsten Kippenzimmergespräch einflechten konnte – etwa so: »In
deren Mossberg würd ich unheimlich gern mal rein.«)
    »Nicht«, sagte Larry leise zu mir, so wie ich es zuvor über den
Tisch hinweg zu ihm gesagt hatte.
    »Warum besuchst du nicht Herm Hoyt, wo du schon mal hier bist,
Billy«, sagte Onkel Bob gerade – ein offenbar willkommener Themenwechsel. »Ich
weiß, dass der Trainer unheimlich gern mit dir reden würde.«
    »Worüber?«, fragte ich Bob mit schlecht gespielter Gleichgültigkeit,
aber der war beschäftigt: er schenkte sich Bier nach.
    Robert Fremont, mein Onkel Bob, war siebenundsechzig. Im Jahr darauf
wollte er in Ruhestand gehen, aber er hatte mir gesagt, dass er sich weiterhin
dem Alumni-Büro zur Verfügung stellen und besonders noch zu der
Alumni-Zeitschrift der Akademie, The River Bulletin, beitragen
wollte. Man mochte von Onkel Bobs »Hilferufen aus der Abteilung Wo-seid-ihr-alle?«
halten, was man wollte, aber sein Engagement beim Aufspüren verschollener
Ehemaliger verschaffte ihm große Beliebtheit im Kollegenkreis.
    [608]  »Worüber würde Coach Herm denn gern mit mir reden?«, versuchte
ich es erneut bei Onkel Bob.
    »Das wirst du ihn wohl leider selber fragen müssen, Billy«,
erwiderte der stets joviale Tennisarm-Bob. »Du kennst ja Herm – der kann ganz
schön einen auf Glucke machen, wenn man ihn nach seinen Ringern fragt.«
    »Oh!«
    Vielleicht doch kein so willkommener
Themenwechsel, dachte ich.
    In einer anderen Stadt, zu einem späteren Zeitpunkt hätte die
Einrichtung – »für betreutes Wohnen und darüber hinaus« – wahrscheinlich den
Namen »Am Kiefernwäldchen« oder (in Vermont) »Unter den Ahornbäumen« bekommen.
Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass Harry Mashall und Nils Borkman das
Gebäude geplant und errichtet hatten; wie es der Zufall wollte, sollte keiner
von beiden dort sterben.
    Jemand war an jenem langen
Thanksgiving-Wochenende, als ich Herm Hoyt besuchen ging, gerade dort
gestorben. Ein verhüllter Leichnam war auf eine Transportliege geschnallt, die
auf dem Parkplatz von einer älteren Pflegerin mit herben Gesichtszügen bewacht
wurde. »Sie sind weder der Mensch noch das Fahrzeug, auf das ich warte«,
erklärte sie mir.
    »Tut mir leid«, sagte ich.
    »Außerdem wird es gleich schneien«, erklärte die alte Pflegerin.
»Dann muss ich ihn wieder reinrollen.«
    Ich versuchte, vom Thema Leichnam auf das meines Besuchs zu kommen,
aber die Pflegerin wusste bereits, zu [609]  wem ich wollte – First Sister war nun
mal eine Kleinstadt. »Der Trainer wartet schon auf Sie«, sagte sie. Nachdem sie
mir den Weg zu seinem Zimmer beschrieben hatte, kam noch: »Sie sehen aber nicht
gerade wie ’n Ringer aus.« Und als ich mich ihr vorgestellt hatte: »Ach, ich
hab Ihre Mutter und Ihre Tante gekannt – und natürlich Ihren Großvater.«
    »Natürlich«, sagte ich.
    »Sie sind der Schriftsteller«, stellte sie fest, den Blick auf das
glimmende Ende ihrer Zigarette geheftet. Da begriff ich, dass sie den Leichnam
nach draußen gerollt hatte, weil sie Raucherin war.
    In dem Jahr war ich zweiundvierzig; die Pflegerin schätzte ich

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