In einer Person
an.
»Ja, er ist gestorben – seine Mutter ist bei ihm«, sagte Elaine.
»O Gott«, stöhnte sie und eilte sofort in Delacortes Zimmer – zu
spät. Mrs. Delacorte hatte ihr Vorhaben schon in die Tat umgesetzt – ihren
festen Plan, seit sie wusste, dass ihr Sohn im Sterben lag. Nadel und Spritze
musste sie in der Handtasche dabeigehabt haben. Sie hatte die Nadel in das Ende
des Hickman-Katheters eingeführt, etwas Blut herausgezogen, diese erste Spritze
aber in den Papierkorb geleert. In der ersten Spritze war in der Regel
hauptsächlich Heparin. Mrs. Delacorte hatte ihre Hausaufgaben gemacht; sie
wusste, dass erst die zweite Spritze fast ausschließlich Carltons
virusinfiziertes Blut enthalten würde. Die hatte sie sich selbst gespritzt,
tief in den Gesäßmuskel, etwa fünf Milliliter vom Blut ihres Sohnes. (Mrs.
Delacorte sollte 1989 an Aids sterben, mit Hospizpflege in ihrer Wohnung in New
York.)
Auf Drängen Elaines brachte ich Mrs. Delacorte mit dem [624] Taxi heim – unmittelbar nachdem sie sich selbst eine tödliche Dosis vom Blut ihres
geliebten Carlton verabreicht hatte. Sie wohnte im zehnten Stock eines dieser
schicken Apartmenthäuser mit Vordach und Portier an der Park Avenue, Ecke East
70- oder 80-noch-was.
»Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber ich genehmige mir jetzt einen Drink«, sagte sie mir. »Bitte
kommen Sie doch herein.« Ich folgte ihr in die Wohnung.
Für mich war unverständlich, warum Delacorte im St. Vincent’s
gestorben war, obwohl Mrs. Delacorte in ihrem Park-Avenue-Apartment doch
offensichtlich eine komfortablere Sterbebegleitung für ihn hätte organisieren
können. »Carlton war immer strikt gegen jegliche Privilegien«, erklärte Mrs.
Delacorte. »Er wollte so wie jedermann sterben – das hat er gesagt. Er ließ
mich hier keine Hospizpflege für ihn einrichten, obwohl die Nachfrage nach
Zimmern in St. Vincent’s bestimmt groß war – wie ich ihm oft genug gesagt
habe«, erzählte sie.
Ganz bestimmt gab es großen Andrang auf die Krankenzimmer im St.
Vincent’s, jedenfalls in der Folgezeit. (Manche Patienten lagen dort sogar auf
den Fluren im Sterben.)
»Möchten Sie Carltons Zimmer sehen?«, fragte mich Mrs. Delacorte,
als wir beide einen Drink in der Hand hatten – sonst trinke ich keinen Alkohol,
höchstens mal ein Bier. Mit Mrs. Delacorte trank ich einen Whiskey, vermutlich
einen Bourbon. Dieser zierlichen Frau zuliebe hätte ich alles getan. Ich ging
sogar mit ihr in Delacortes ehemaliges Kinderzimmer.
Ich fand mich in einer Art Reliquienschrein von Carlton [625] Delacortes
privilegierter New Yorker Kindheit wieder, bevor er auf die Favorite River
Academy »fort«geschickt wurde; Mrs. Delacorte gab freimütig zu, dass sein
Internatseintritt mit der Scheidung seiner Eltern zusammengefallen war.
Ebenso freimütig (und für mich einigermaßen überraschend) verriet
mir Mrs. Delacorte den maßgeblichen Grund ihrer Trennung und Scheidung von
Carltons Vater: Ihr Exmann war ein fanatischer Schwulenhasser. Er hatte Carlton
eine Schwuchtel und kleine Tunte genannt und Mrs. Delacorte vorgeworfen, dass
sie ihrem verweichlichten Sohn erlaubt hatte, ihre Kleider anzuziehen und ihren
Lippenstift zu benutzen.
»Natürlich wusste ich es – wahrscheinlich lange vor Carlton«,
erzählte mir Mrs. Delacorte und verlagerte ihr Gewicht auf das rechte Bein;
eine so tiefe intramuskuläre Injektion musste ziemlich weh tun. »Mütter merken
sowas«, sagte sie, kaum merklich hinkend. »Man kann Kinder nicht zwingen, etwas zu werden, das sie nicht sind. Man kann
einem Jungen nicht einfach verbieten, mit Puppen zu spielen.«
»Nein, das geht nicht«, sagte ich; ich sah mir die vielen Fotos in
dem Zimmer an – Aufnahmen des unbekümmerten Delacorte, bevor ich ihn kannte.
Einmal war er einfach nur ein kleiner Junge gewesen, der nichts lieber tat, als
sich als kleines Mädchen zu verkleiden und zu schminken.
»Ach, sehen Sie sich das an – schauen Sie nur«, sagte Mrs. Delacorte
unvermittelt; die Eiswürfel in ihrem fast leeren Glas klirrten, während sie
nach einem Foto an der Pinnwand im Zimmer ihres verstorbenen Sohnes griff und [626] es
abmachte. »Sehen Sie nur, wie glücklich er da war!«,
rief Mrs. Delacorte, als sie es mir reichte.
Auf dem Bild musste Delacorte elf oder zwölf gewesen sein; sein
koboldhaftes Gesicht erkannte ich sofort wieder. Der Lippenstift betonte sein
Grinsen wohl noch. Die billige fliederfarbene Perücke – mit einer pinken Strähne – war
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