In einer Person
herausbekommen hatten; aber man lebt
sein Leben nun mal, wie es kommt – in dem Moment, wenn [632] man etwas erlebt, hat
man keinen großen Überblick über die Ereignisse.
Auf dem Foto von Kittredge als Mädchen sah
er nicht – wie seine Mutter ihn Elaine angeblich beschrieben hatte – wie »ein
kränklicher kleiner Junge« aus; er (oder das hübsche Mädchen auf dem Foto)
wirkte nicht wie ein Kind, das »kein Selbstvertrauen« hatte, wie Mrs. Kittredge
angeblich zu Elaine gesagt hatte. Auch nicht wie einer, auf dem »die anderen
Kinder herumhackten, besonders die Jungs«, um bei den Worten dieser grässlichen
Frau zu bleiben.
»Das hat Mrs. Kittredge dir tatsächlich gesagt, stimmt’s?«, fragte
ich Elaine.
»Nicht wörtlich«, murmelte Elaine.
Noch schwerer konnte ich mir vorstellen, dass sich Kittredge früher
»von Mädchen verunsichern ließ«, ganz davon zu schweigen, dass Mrs. Kittredge
ihren Sohn verführt haben sollte, damit er selbstbewusster würde – nicht dass
ich das Elaine (wie ich betonte) je so ganz abgenommen hatte.
»Es ist passiert, Billy«, sagte Elaine leise. »Mir hat nur der Grund
nicht gefallen – ich hab den Grund geändert, warum es passiert ist.«
Ich erzählte Elaine, dass Kittredge Mrs. Delacortes Kleider geklaut
hatte; und was Delacorte kurz vor seinem Tod um Atem ringend gerufen hatte.
Delacorte hatte ganz klar Kittredge gemeint – »er war nie zufrieden damit, sich
einfach nur anzupassen !«
»Ich wollte nicht, dass du ihn magst oder ihm verzeihst, Billy«,
gestand mir Elaine. »Ich hab ihn dafür gehasst, wie er mich einfach an seine
Mutter weitergereicht hat; ich [633] wollte nicht, dass du ihn bemitleidest oder
Verständnis für ihn hast. Sondern dass du ihn auch hasst.«
»Aber ich hasse ihn doch, Elaine«, beteuerte ich.
»Ja, schon, aber das ist nicht alles, was du für ihn empfindest –
das weiß ich«, erwiderte sie.
Mrs. Kittredge hatte ihren Sohn tatsächlich verführt, wenn auch
nicht um sein angeblich schwaches Selbstvertrauen zu stärken. Kittredge hatte
seit je genügend Selbstvertrauen besessen – sogar bei der Entscheidung, dass er
ein Mädchen sein wollte (da sogar am meisten). Seine
eitle und törichte Mutter hatte ihn aus dem gängigsten und hirnverbranntesten
Grund verführt, mit dem viele schwule oder bisexuelle junge Männer für
gewöhnlich konfrontiert werden – wenn auch meist nicht in Gestalt ihrer eigenen
Mutter. Mrs. Kittredge glaubte allen Ernstes, ihr kleiner Junge brauche nur
eine positive sexuelle Erfahrung mit einer Frau, um wieder »zur Vernunft« zu
kommen!
Wie viele von uns schwulen oder bisexuellen Männern haben diesen
Schwachsinn nicht schon zu hören bekommen? Die felsenfeste Überzeugung, wir
müssten nur mit einer Frau ins Bett steigen – also es einmal »richtig« machen –, um nie mehr an Sex mit einem anderen Mann auch nur zu denken!
»Du hättest es mir sagen sollen«, warf ich Elaine vor.
»Und du hättest mir das Foto zeigen sollen, Bill.«
»Ja, stimmt – wir haben beide was versäumt.«
Tom Atkins und Carlton Delacorte hatten Kittredge getroffen, aber
wann genau – und wo? Für Elaine und mich stand jedenfalls fest, dass sie
Kittredge als Mädchen getroffen hatten.
[634] »Noch dazu als ein hübsches, wetten?«, sagte Elaine zu mir.
Atkins hatte das Wort schön verwendet.
Für Elaine und mich war das Zusammenleben in San Francisco an sich
schon kompliziert genug gewesen. Jetzt, wo Kittredge wieder in unseren Köpfen
herumspukte – von der Sache mit ihm als Mädchen ganz
zu schweigen –, konnten wir unmöglich so weitermachen.
»Nur ruf Larry bitte nicht an – noch nicht«, sagte Elaine.
Aber daran hielt ich mich nicht; zum einen wollte ich seine Stimme hören.
Und wenn jemand wusste, wo in New York eine Wohnung frei war und wem sie
gehörte, dann Larry! »Ich finde eine Unterkunft für dich in New York«, sagte
ich Elaine. »Wenn ich keine zwei Apartments finde, zieh ich nach Vermont – ich versuch’s einfach mal.«
»In deinem Haus sind keine Möbel, Billy«, wandte Elaine ein.
»Ja nun…«
Und dann rief ich Larry an.
»Ich bin bloß erkältet – es ist nichts, Billy«, sagte er, aber ich
hörte seinen Husten und wie er ihn zu unterdrücken versuchte. Dieser trockene
PcP-Husten war schmerzhaft; es war ein anderer Husten als bei einer Bronchitis,
ohne Schleim. Bei einer PcP-Lungenentzündung waren Kurzatmigkeit und Fieber das
Problem.
»Wie ist dein T-Zell-Status?«, fragte ich ihn.
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