In einer Person
wiederholte er die
Geschichte meiner Bühnenkarriere auch vor ihr. »Als ich Lears Narr gespielt
habe, ist er nicht gekommen, um mich sterben zu sehen – was ich natürlich
verstehe«, versicherte Delacorte Elaine treuherzig. »Ich weiß es wirklich zu
schätzen, dass er jetzt gekommen ist, um mich sterben zu sehen – ihr seid sogar
beide da, was mir sehr viel bedeutet!«, versicherte er.
Delacorte redete mich kein einziges Mal mit Namen an, und ich kann
mich beim besten Willen nicht erinnern, ob er mich in unserer Schulzeit auf der
Academy je mit Bill oder Billy angeredet hat. Aber was macht das schon? Ich
kannte [621] seinen Vornamen ja auch nicht! Da ich Delacortes Auftritt als Lears
Narr verpasst habe, ist mir Delacorte in erster Linie aus Was
ihr wollt in Erinnerung; dort spielte er Junker Christoph von
Bleichenwang, der vor Junker Tobias von Rülp (gespielt von Onkel Bob) voller
Bedauern verkündet: »Ach, hätte ich mich doch auf die Künste gelegt!«
Nach Tagen fast völligen Schweigens starb Delacorte, die beiden
Pappbecher in den zittrigen Händen. An dem Tag war außer Mrs. Delacorte und mir
auch Elaine da und – zufällig – auch Larry. Er hatte Elaine und mich durch
Delacortes offene Zimmertür entdeckt und den Kopf hereingesteckt. »Nicht der,
den ihr gesucht habt, oder?«, hatte er gefragt.
Elaine und ich schüttelten beide den Kopf. Die völlig übermüdete
Mrs. Delacorte war eingenickt, als ihr Sohn starb. Es hatte keinen Sinn,
Delacorte Larry vorzustellen; eingehüllt in sein Schweigen, schien er uns
bereits verlassen zu haben, oder er war gerade dabei – und Mrs. Delacorte extra
wecken, um sie Larry vorzustellen, wollten Elaine und ich ebenfalls nicht. (Die
zierliche Frau hatte schon ewig kein Auge mehr zugetan.)
Larry war natürlich der Aidsexperte unter uns. »Euer Freund macht es
nicht mehr lange«, flüsterte er Elaine und mir zu, bevor er wieder ging. Elaine
brachte Mrs. Delacorte zur Damentoilette, weil die übermüdete Mutter so
erschöpft war, dass wir befürchteten, dass sie stürzen oder sich verlaufen
könnte.
Ich war nur einen kurzen Augenblick mit Delacorte allein. Inzwischen
war ich so an sein Schweigen gewöhnt, dass ich zunächst glaubte, eine fremde
Stimme zu hören. [622] »Hast du ihn gesehen?«, kam ein hauchzartes Flüstern. »Das
muss man ihm lassen – er war nie zufrieden damit, sich einfach nur
anzupassen!«, keuchte Delacorte.
»Wer?«, flüsterte ich dem Sterbenden ins Ohr, obwohl ich natürlich
wusste, wen er meinte. An wen sonst konnte Delacorte zu dem Zeitpunkt, oder
nahenden Zeitpunkt, seines Todes mit seinem kranken Hirn wohl schon denken?
Wenige Minuten später starb er, die kleinen Hände seiner Mutter auf dem
ausgemergelten Gesicht. Mrs. Delacorte bat Elaine und mich, sie kurz mit dem
Leichnam ihres Sohnes allein zu lassen; natürlich taten wir ihr den Gefallen.
Vielleicht bluffte er ja nur, aber jedenfalls machte Larry uns
nachträglich weis, er hätte an unserer Stelle Mrs. Delacorte niemals mit ihrem
toten Sohn allein gelassen. »Doch nicht eine alleinstehende Mutter – mit ihrem
einzigen Kind!«, sagte Larry. »Und wenn ein Hickman-Katheter im Raum ist, Bill,
erst recht nicht. Dann darf man einen Hinterbliebenen auf gar keinen Fall mit
einem Leichnam allein lassen.«
»Ich hatte doch keine Ahnung, Larry – schließlich hatte ich noch nie
von so was gehört !«, verteidigte ich mich.
»Natürlich hast du noch nie von so was gehört, Bill – du bist kein Betroffener ! Wie solltest du da von so was gehört haben? Und du genauso wenig!«, fuhr er an Elaine
gewandt fort. »Ihr beide haltet einen solchen Abstand
zu dieser Seuche ein – von den Zuschauer rängen,
wenn’s hochkommt!«
»Spiel hier nicht wieder den Überlegenen, Larry!«, sagte Elaine.
»Larry spielt immer den Überlegenen, so oder so«, sagte ich.
[623] »Weißt du was, du bist nicht bloß bisexuell, Bill. Sondern bi- alles !«, bekam ich von Larry zu hören.
»Was soll das denn heißen?«
»Du bist ein Solopilot, stimmt’s, Bill?«, fragte mich Larry. »Du
fliegst allein – kein Copilot darf dir was sagen.« (Ich weiß heute noch nicht,
was er mit dieser Bemerkung eigentlich gemeint hat.)
»Spiel nicht wieder den Überlegenen, Mr. Florence
Scheiß-Nightingale«, wies Elaine Larry in die Schranken.
Elaine und ich hatten auf dem Flur vor Delacortes Zimmer gestanden,
als eine Krankenschwester vorbeikam, stehen blieb und uns ansprach. »Ist
Carlton –«, setzte sie
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