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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Delacorte mich
bei unserem Schulabschluss an der Favorite River seiner Mutter vorgestellt
hatte, hatte er ihr gesagt: »Das ist der Typ, der ursprünglich als Lears
Hofnarr vorgesehen war.«
    [618]  Bestimmt hatte Delacorte seiner Mutter auch von meiner Affäre mit
der transsexuellen Stadtbibliothekarin erzählt, weshalb Mrs. Delacorte mir
gegenüber beteuert hatte – und zwar in fast genau den gleichen Worten wie an
jenem Winterabend an der Seventh Avenue: »Das mit deinen Schwierigkeiten tut mir sehr leid.«
    Ich brachte keinen Ton heraus. Ich wusste, dass ich sie kannte, aber
mittlerweile waren dreiundzwanzig Jahre vergangen; ich hatte vergessen, woher ich sie kannte und wann und wie ich sie kennengelernt
hatte. Aber jetzt hatte sie nichts mehr dagegen, mich zu berühren; sie hielt
meine beiden Hände umklammert und sagte: »Ich weiß, es ist schwer, da
reinzugehen, aber dem Kranken bedeutet es so viel. Ich gehe mit und helfe Ihnen – wenn Sie mir helfen. Für mich ist es auch schwer, wissen Sie. Schließlich liegt
mein Sohn auch im Sterben«, sagte mir Mrs. Delacorte, »und ich würde am
liebsten mit ihm tauschen. Er soll statt meiner weiterleben. Ich will nicht o hne ihn weiterleben!«, rief sie.
    »Mrs. Delacorte ?«, riet ich – nur weil ich
etwas in ihrem gemarterten Gesicht sah, das mich an Delacortes Nahtodmiene beim
Ringen erinnerte.
    »Ach, Sie sind es!«, rief sie. »Sie sind
jetzt dieser Schriftsteller – Carlton spricht öfter
von Ihnen. Sie sind Carltons Schulfreund. Nicht wahr, Sie kommen Carlton besuchen? Ach, wird der sich freuen, Sie zu sehen –
Sie müssen einfach mit reinkommen!«
    Und so wurde ich in dieser Klinik, in der so viele sieche und
geschwächte junge Männer in den letzten Zügen lagen, an Delacortes Sterbelager
gezerrt.
    »Ach, Carlton – sieh nur, wer hier ist,
wer dich besuchen [619]  kommt!«, verkündete Mrs. Delacorte auf dieser Schwelle,
die wie so viele andere trostlose Schwellen im St. Vincent’s war. Ich hatte
nicht einmal Delacortes Vornamen gekannt; auf Favorite River hatte nie jemand Carlton zu ihm gesagt. Dort war er einfach nur Delacorte
gewesen. (Einmal hatte Kittredge ihn Becherheini genannt, wegen der beiden
Pappbecher, die ihn so oft begleiteten – aufgrund des aberwitzigen Abkochens
und des ewigen Spülens und Spuckens, wofür Delacorte zeitweilig berühmt-berüchtigt
gewesen war.)
    Natürlich hatte ich gesehen, wie Delacorte sein Gewicht als Ringer
reduzierte – wenn er aussah, als wäre er am Verhungern –, aber jetzt
verhungerte er wirklich. (Der Hinweis genügt, dass
ich wusste, wozu der Hickman-Katheter in Delecartes skelettartiger Hühnerbrust
diente.) Zuvor war er an ein Beatmungsgerät angeschlossen gewesen, hatte Mrs.
Delacorte mir auf dem Weg zu seinem Zimmer erzählt, aber jetzt nicht mehr. Sie
hatten es mit sublingualem und flüssigem Morphium probiert, hatte sie
hinzugefügt; in jedem Fall war er auf Morphium.
    »In dieser Phase ist das Absaugen sehr wichtig – damit die Sekrete
nicht verdicken«, hatte sie gesagt.
    »Ja genau, in dieser Phase«, hatte ich müde wiederholt. Ich war wie
betäubt, fühlte mich eingefroren, als stünde ich immer noch wie gelähmt im
rieselnden Schnee auf der Seventh Avenue.
    »Das ist der Typ, der ursprünglich als Lears Hofnarr vorgesehen war«, versuchte Delacorte seiner Mutter zu
sagen.
    »Ja, ja – ich weiß, mein Lieber, ich weiß«, beschwichtigte ihn die
zierliche Frau.
    [620]  »Hast du mehr Becher mitgebracht?«, fragte er sie – ich sah, dass
er zwei Pappbecher in Händen hielt; völlig leer, wie seine Mutter mir später
erklärte. Sie brachte ihm immer neue Becher mit, obwohl es mit dem Spülen und
Spucken jetzt vorbei war; als sie das sublinguale Morphium ausprobierten,
sollte Delacorte weder spülen noch spucken – jedenfalls laut Mrs. Delacorte. Er
wollte die Becher nur aus irgendeinem albernen Grund in den Händen haben, sagte sie.
    Delacorte hatte auch Kryptokokken-Meningitis; sein Hirn war in
Mitleidenschaft gezogen – er hatte Kopfschmerzen, sagte seine Mutter, und er
delirierte häufig. »Dieser Typ war Ariel in Der Sturm «,
sagte Delacorte zu seiner Mutter, als ich ihn das erste Mal am Krankenbett besuchte – und bei jedem nachfolgenden Besuch. »Er war Sebastian in Was
ihr wollt «, erklärte er ihr wiederholte Male. »Als Lears Narr ist er am
Wort Schatten gescheitert, nur deshalb hab ich die Rolle bekommen«, delirierte
Delacorte.
    Als ich ihn später mit Elaine besuchte,

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