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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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»Wann wolltest du es
mir sagen? Erzähl mir keinen Quatsch, Larry!«
    »Bitte, komm nach Hause, Billy – und bring Elaine mit. Bitte, kommt alle beide nach Hause«, sagte Larry. (Schon nach diesen
wenigen Worten war er außer Atem.)
    [635]  Larry wohnte in einem hübschen baumbestandenen Teil der West 10th
Street, wo er auch sterben sollte – nur einen Häuserblock nördlich der
Christopher Street und einen Katzensprung von der Hudson Street und dem
Sheridan Square entfernt. Es war ein schmales, zweigeschossiges Reihenhaus, wie
es sich Lyriker sowieso nicht leisten können – aber auch Schriftsteller
generell nicht, Elaine und mich eingeschlossen. Doch eine hochenergische Erbin
und Grande Dame unter Larrys Lyrikmäzenen – ich nannte sie im Stillen nur Madame Mäzenin – hatte das Haus Larry vermacht, der es
Elaine und mir vererben sollte (die wir uns den Unterhalt natürlich nicht
leisten konnten und dieses Prachtstück von einem Haus später notgedrungen
verkaufen mussten).
    Als Elaine und ich einzogen, um dem dort lebenden Pfleger bei der
Versorgung Larrys zu helfen, war das kein richtiges »Zusammenleben« mehr;
dieses Experiment war für Elaine und mich definitiv passé. In Larrys Haus gab
es fünf Schlafräume; Elaine und ich hatten jeder ein eigenes Zimmer mit Bad.
Wir übernahmen abwechselnd die Nachtschicht bei Larry, damit der Pfleger auch
mal zur Ruhe kam. Er hieß Eddie und war ein ruhiger junger Mann, der sich
tagsüber um Larry kümmerte, so dass Elaine und ich – theoretisch – zum
Schreiben kamen. Aber in diesen langen Monaten, in denen Larry dahinsiechte,
bekamen wir beide nicht besonders viel zustande (und erst recht nichts Gutes).
    Larry war ein angenehmer Patient, vielleicht weil er vor seiner
Erkrankung so viele andere Kranke aufopferungsvoll gepflegt hatte. So wurde
mein Mentor, alter Freund und [636]  ehemaliger Geliebter (sterbend) wieder der
Mann, den ich einst so bewundert hatte, als ich ihn kennenlernte – vor über
zwanzig Jahren in Wien. Das schlimmste Stadium der Speiseröhren-Candidose
sollte Larry erspart bleiben; er bekam keinen Hickman-Katheter. Von einem
Beatmungsgerät wollte er nichts wissen. Allerdings litt er an einer
Rückenmarkserkrankung, der vakuolären Myelopathie, die ihn sehr schwächte. Er
konnte nicht mehr gehen und auch nicht stehen, und er war inkontinent – was
jedenfalls zu Anfang an seiner Eitelkeit kratzte und ihm (allerdings nicht
lange) peinlich war. »Es ist mal wieder mein Penis, Bill«, sollte Larry bald lächelnd sagen, wenn ihm etwas danebengegangen war.
    »Sag Billy, er soll den Plural aussprechen, Larry«, schlug Elaine
dann vor.
    »Ja, ich weiß – hat man so was schon gehört?«, rief Larry dann aus.
»Bitte sag’s, Billy – wir wollen den Plural hören!«
    Larry tat ich den Gefallen – na ja, Elaine auch. Die waren ja so
vernarrt in diesen verflixten Plural. »Peni-the«, sagte ich, im Flüsterton.
    »Was? Ich hör nichts«, beschwerte sich Larry dann.
    »Lauter, Billy«, verlangte Elaine.
    »Peni-the!«, rief ich schließlich, und
dann stimmten Larry und Elaine ein, und wir alle riefen aus vollem Hals: »Peni-the!«
    Eines Nachts weckten unsere Rufe den armen Eddie, der sich aufs Ohr
gelegt hatte. »Ist was?«, fragte der junge Pfleger, als er müde im Schlafanzug
herunterkam.
    »Wir deklinieren gerade das Wort ›Penisse‹ in verschiedenen Sprachen
durch«, erklärte Larry. »Bill versucht es [637]  uns beizubringen.« Und dabei war
es immer umgekehrt gewesen: Larry hatte mir alles
beigebracht.
    Wie ich einmal zu Elaine gesagt hatte: »Ich sag dir, wer meine
Lehrer waren – die, die mir am meisten bedeutet haben. Natürlich Larry, aber
auch Richard Abbott und – vielleicht am allerwichtigsten oder zum wichtigsten
Zeitpunkt – deine Mutter.«
    Lawrence Upton starb im Dezember 1986, mit achtundsechzig (fast im
gleichen Alter, in dem ich jetzt bin!). Er verbrachte
noch fast ein Jahr in jenem Haus in der West 10th Street. Er starb während
Elaines Schicht, aber sie kam und weckte mich; so hatten Elaine und ich es
miteinander vereinbart, weil wir beide in seiner letzten Stunde bei ihm sein
wollten. Wie Larry in der Nacht, als Russell in seinen Armen gestorben war,
über Russell gesagt hatte: »Er war leicht wie eine Feder.«
    In der Nacht, als Larry starb, lagen Elaine und ich neben ihm und
hielten ihn im Arm. Das Morphium trübte sein Bewusstsein; wer weiß, wie bewusst
(oder unbewusst) ihm war, was er zu Elaine und mir sagte? »Es

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