In einer Person
vom Meatpacking District. Ich
erzählte Elaine von Miss Frost und bat sie, das Mendelssohn-Lied für mich zu
singen – das, das sie für mich aufsparte, wie sie gesagt hatte, und das sie für
Larry gesungen hatte.
»Ich versprech dir, dass ich nicht in deiner Schicht sterben werde,
Elaine. Du wirst das Lied nie für mich singen müssen. Außerdem muss ich es
jetzt hören«, sagte ich.
Zu diesem Lied: Elaine erklärte mir, dass es ein kleiner Teil des Elias ist, dem längsten Werk Mendelssohns. Es kommt gegen
Ende des Oratoriums, nachdem Gott (gesungen von einem kleinen Jungen)
erschienen ist und die Engelschöre Elias segnen, der seine letzte Arie singt –
»Ja, es sollen wohl Berge«. Das sang Elaine mir vor; ihre Altstimme war
klangvoll und kräftig, selbst am Telefon, und ich nahm Abschied von Miss Frost,
während ich dieselbe [644] Musik hörte wie beim Abschied von Larry. Miss Frost war
für mich seit fast dreißig Jahren verloren, aber in jener Nacht wusste ich,
dass sie nun für immer fort war und dass alles, was Onkel Bob im River Bulletin über sie schreiben würde, bei weitem nicht
reichte.
Traurige Nachricht für den Jahrgang 1935! Al Frost, geb.
1917 in First Sister, Vermont; Kapitän der Ringermannschaft 1935 (unbesiegt);
gest. in Dover oder Portsmouth, New Hampshire, 1990.
Ich weiß noch, dass ich Onkel Bob fragte: »Ist das alles ?«
»Scheiße, Billy – was sonst können wir in einer Alumni-Zeitschrift
schreiben?«, antwortete Tennisarm-Bob.
Als Richard und Martha die alten Möbel aus Grandpa Harrys Haus
versteigerten, berichteten sie mir, dass sie dreizehn Bierflaschen unter dem
Wohnzimmersofa gefunden hatten – alle von Onkel Bob (vermutlich alle von der
Trauerfeier für Mom und Tante Muriel).
»Reife Leistung, Bob!«, hatte ich zu Mrs. Hadley und Richard gesagt.
Tennisarm-Bob hatte eben doch recht: Was kann man schon in einem
mickrigen Alumni-Blättchen über einen transsexuellen Ringer schreiben, der in
einer Kneipenschlägerei erschlagen wurde? Nicht viel.
Ein paar Jahre später – so allmählich lebte ich mich in Vermont
ein – erhielt ich spätabends einen Anruf von El. Es dauerte etwas, bis ich ihre
Stimme erkannte; wahrscheinlich war sie betrunken.
[645] »Du weißt schon, diese Freundin von dir – die so ist wie ich,
bloß etwas älter?«, fragte El.
»Du meinst Donna«, sagte ich nach kurzer Pause.
»Genau, Donna«, fuhr El fort. »Also jetzt ist sie krank – jedenfalls soweit ich gehört hab.«
»Danke für die Nachricht«, sagte ich noch, da legte El auch schon
auf. Es war zu spät, irgendwen in Toronto anzurufen; ich schlief einfach
darüber. Das Ganze muss 1992 oder 1993 gewesen sein; vielleicht sogar Anfang
1994 (nach meinem Umzug nach Vermont verschwammen die Zeit- und Jahresgrenzen
etwas in meinem Kopf.)
Ich hatte Freunde in Toronto und fragte mich durch. So erfuhr ich
von einem erstklassigen Hospiz – jeder, den ich kannte, sagte, dort sei es
traumhaft, unter den Umständen. Es hieß Casey House; erst kürzlich habe ich
gehört, dass es immer noch existiert.
Damals hatte Casey House einen sehr sympathischen
Pflegedienstleiter; wenn ich nicht irre, hieß er mit Vornamen John, und sein
Nachname klang irgendwie irisch. Seit meiner Rückkehr nach First Sister lässt
mein Namensgedächtnis zu wünschen übrig. Außerdem war ich (wann auch immer
genau ich von Donnas Krankheit erfuhr) schon Anfang, wenn nicht Mitte fünfzig.
(Nicht nur mein Namens gedächtnis lässt nach!)
John erzählte mir, dass Donna seit einigen Monaten im Hospiz lebe.
Aber für die Pfleger und anderen Mitarbeiter des Casey House sei Donna »Don«,
erklärte er mir.
»Östrogen hat Nebenwirkungen – vor allem kann es die Leber
angreifen«, sagte mir John. Östrogene können eine Art Hepatitis hervorrufen:
die Gallenflüssigkeit stockt und [646] staut sich. »Der Juckreiz, der mit diesem
Zustand einhergeht, hat Donna verrückt gemacht«, waren Johns Worte. Donna
selbst hatte alle angewiesen, Don zu ihr zu sagen; sobald sie die Östrogene
absetzte, kehrte der Bartwuchs zurück.
Mir kam es unerhört ungerecht vor, dass Donna, die so hingebungsvoll
daran gearbeitet hatte, eine Frau aus sich zu machen, nicht nur an Aids starb,
sondern auch gezwungenermaßen in ihrer alten männlichen Identität.
Außerdem hatte Donna das Humane Herpesvirus 5. »In ihrem Fall könnte
die Blindheit ein Segen sein«, sagte mir John. Er meinte, dass Donna dann ihre
Bartstoppeln nicht mehr sehen müsste, aber
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