In einer Person
fand ich geradezu
furchterregend – sogar sein Hund Stierauge war böse. In meinen Träumen wurde [77] ich
von Jack Dawkins geküsst und regelrecht verführt – einen charmanteren und
geschickteren Taschendieb hat es nie gegeben. Ich weinte, als Sikes die gutherzige
Nancy umbrachte, doch ich weinte auch, als Sikes’ treuer Hund Stierauge von der
Brüstung auf die Schultern des Toten springen wollte. (Stierauge verfehlt sein
Ziel und fällt in den Graben, wobei er sich den Schädel zerschmettert.)
»Melodramatisch, findest du nicht?«, fragte mich Miss Frost. »Und
Oliver weint zu viel; er ist mehr eine Chiffre für Dickens’ große Passion für
misshandelte Kinder als eine voll ausgestaltete Figur.« Sie erzählte mir,
Dickens habe solche Themen und solche Kinder in seinen reiferen Romanen besser
beschrieben – vor allem in David Copperfield, dem
nächsten Dickens-Roman, den sie mir gab, und in Große
Erwartungen, auf den ich noch warten musste.
Als Mr. Brownlow Oliver »zu den Mauern von Newgate« mitnimmt, »die
so viel Elend und so unsagbare Angst« verbergen – wo Fagin darauf wartet,
gehängt zu werden –, weinte ich auch um den armen Fagin.
»Es ist ein gutes Zeichen, wenn ein Junge bei der Lektüre eines
Romans weint«, versicherte mir Miss Frost.
»Ein gutes Zeichen?«, wiederholte ich.
»Es bedeutet, dass du ein weicheres Herz als die meisten Jungs
hast.« Mehr Worte verlor sie nicht über meine Tränen.
Als ich, wie Miss Frost es formulierte, »mit der Verwegenheit eines
Einbrechers, der eine Villa ausplündert«, draufloslas, sagte sie eines Tages zu
mir: »Lass dir Zeit, William. Genießen, nicht schlingen. Und wenn du ein Buch
magst, dann merk dir einen großartigen Satz daraus – [78] vielleicht deinen
Lieblingssatz. So kannst du dir merken, wie die Geschichte geklungen hat, die
dich zu Tränen gerührt hat.« (Wenn Miss Frost fand, dass Oliver zu viel weinte,
was musste sie dann erst von mir halten?)
Nach David Copperfield gab Miss Frost mir
einen ersten Vorgeschmack auf Thomas Hardy. Wie alt war ich da? Vierzehn oder
schon bald fünfzehn? (Wohl doch eher fünfzehn, denn als ich fünfzehn war, nahm
Richard Abbott auf der Academy zufällig denselben Roman durch, doch das waren
Zwölftklässler auf einer Privatschule, während ich – das weiß ich genau – immer
noch erst in der achten Klasse war.)
Ich erinnere mich, wie ich ein wenig irritiert den Titel las – Tess von den d’Urbervilles – und misstrauisch fragte:
»Handelt das Buch von einem Mädchen?«
»Ja, William – einem Mädchen, das großes Pech hat im Leben«, sagte
Miss Frost rasch. »Aber – viel wichtiger für dich als jungen Mann ist, dass der
Roman auch von den Männern handelt, denen sie begegnet. Hoffentlich wirst du
nie einer von der Sorte Männer, denen Tess begegnet, William.«
»Oh«, sagte ich. Bald würde ich erfahren, wie sie das mit den
Männern, denen Tess begegnet, meinte; ich würde tatsächlich nie einer von der
Sorte sein wollen.
Über Angel Clare sagte Miss Frost einfach nur: »Was ist das für eine
feuchte Nudel.« Und als ich sie verständnislos ansah, ergänzte sie: »Zerkochte
Spaghetti, William – schlaff und schwach. «
»Oh.«
[79] Ich eilte aus der Schule nach Hause, um zu lesen; ich beeilte
mich auch beim Lesen, unfähig, Miss Frosts Rat zu beherzigen und langsamer zu
lesen. An jedem Schultag eilte ich nach dem Abendessen in die Stadtbibliothek,
und wie Richard Abbott als Kind wohnte ich in der
Bibliothek, besonders an den Wochenenden. Miss Frost bestand immer darauf, dass
ich mich zum Lesen auf einen Stuhl, ein Sofa oder an einen Tisch setzte, wo das
Licht besser war. »Sonst verdirbst du dir die Augen, William. Und die brauchst
du noch für dein restliches Leben, wenn du ein richtiger Leser werden willst.«
Und dann war ich unversehens fünfzehn, und es war Zeit für Große Erwartungen – und ich wollte zum ersten Mal einen
Roman ein zweites Mal lesen. Außerdem führten Miss Frost und ich jenes
peinliche Gespräch über meinen brennenden Wunsch, Schriftsteller zu werden.
(Nicht mein einziger brennender Wunsch, wie Sie wissen, doch über meine anderen
brennenden Wünsche sprachen Miss Frost und ich nicht – noch nicht.)
Unversehens wurde es für mich auch Zeit, auf die Favorite River
Academy zu wechseln. Passenderweise – da sie eine so zentrale Rolle für meine
Bildung spielte – wies Miss Frost mich darauf hin, welchen »Gefallen« mir meine
Mutter und Richard Abbott
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