Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
nicht wüsste, dass der neurosengeplagte
Norweger – kein Anfänger in Sachen ›ernstes Drama‹ – der Leiter unseres kleinen
Theaters ist.«
    Unvermittelt sagte sie zu Richard: »Was mich interessieren würde –
falls wir uns für Nora entscheiden und ich die so oft
missverstandene Titelfigur spiele: Welche Rolle würden dann Sie übernehmen, Mr. Richard Abbott?« Ehe Richard antworten konnte, fuhr Miss Frost
fort: »Ich schätze, den Torvald Helmer, Noras langweiligen und verständnislosen
Ehemann, dem sie das Leben rettet, was er umgekehrt nicht zuwege bringt.«
    »Ich schätze, Sie haben recht«, antwortete Richard vorsichtig. »Aber
natürlich bin ich nicht der Regisseur.«
    »Sie müssen mir verraten, Richard Abbott, ob Sie vorhaben, mit mir
zu flirten – ich meine, außerhalb der Bühne.«
    »Um Gottes willen, nein!«, rief Richard. »Ich flirte gerade intensiv
mit Bills Mom.«
    [69]  »Na gut – das ist mal eine klare Antwort«, sagte sie zu ihm,
während sie mir erneut durch die Haare fuhr. »Und falls wir Hedda
Gabler aufführen«, fragte sie Richard, »und ich die Hedda bin – dann
wäre die Entscheidung, welche Rolle dann Sie spielen,
komplizierter, stimmt’s?«
    »Ja, da haben Sie vermutlich recht«, sagte Richard nachdenklich.
»Ich kann nur hoffen, dass ich in der Hedda Gabler nicht den langweiligen und verständnislosen Ehemann spielen müsste – ich fände
es grauenhaft, Jørgen zu sein«, sagte Richard.
    »Wem würde es nicht davor grauen, Jørgen
zu sein?«, fragte ihn Miss Frost.
    »Da wäre noch der Schriftsteller, den Hedda vernichtet«, mutmaßte
Richard. »Es wäre Nils zuzutrauen, dass er mich den Eilert Løvborg spielen
lässt.«
    »Sie wären eine Fehlbesetzung!«, sagte Miss Frost.
    »Bleibt nur noch Richter Brack«, erwiderte Richard Abbott.
    »Das könnte lustig werden«, befand Miss Frost. »Ich erschieße mich,
um Ihren Fängen zu entkommen.«
    »Ich könnte mir gut vorstellen, dadurch vernichtet zu werden«, sagte
Richard Abbott höchst galant. Selbst jetzt spielten sie Theater – das merkte
ich –, und zwar nicht laienhaft. Bei den beiden müsste meine Mutter nicht viel
soufflieren; ich konnte mir nicht denken, dass Richard Abbott oder Miss Frost
je eine Zeile vergessen oder sich auch nur ein einziges Mal versprechen würden.
    »Ich werde es mir überlegen und mich dann bei Ihnen melden«, sagte
Miss Frost zu Richard. Im Foyer der Bibliothek gab es einen hohen schmalen
Spiegel an einer Stelle, [70]  wo nur wenig Licht hinkam und wo an einem der
vielen Garderobenhaken ein einzelner Regenmantel hing – vermutlich der von Miss
Frost. Sie musterte ihre Frisur im Spiegel. »Ich spiele mit dem Gedanken, mir
die Haare wachsen zu lassen«, sagte sie wie zu ihrem Spiegelbild.
    »Ich stelle mir die Hedda mit etwas längerem Haar vor«, sagte
Richard.
    »Tatsächlich?«, fragte Miss Frost, lächelte aber wieder mich an.
»Also William«, sagte sie plötzlich. »Wo wir gerade vom ›Erwachsenwerden‹ reden – da sieh sich einer diesen Jungen an!« Bestimmt errötete ich oder sah beiseite – während ich die drei Romane über das Erwachsenwerden an mein Herz drückte.
    Miss Frost hatte gut gewählt. Ich las schließlich Tom Jones, Sturmhöhe und Jane Eyre – in dieser Reihenfolge – und wurde auf diesem Weg, zur Überraschung meiner
Mom, eine echte Leseratte. Diese Romane lehrten mich, dass sich Abenteuer nicht
auf die Seefahrerei beschränkten, mit oder ohne Piraten. Man konnte spannende
Geschichten finden, ohne sich in Science-Fiction zu flüchten, und man musste
weder Western noch Liebesromane lesen, um zu träumen. Beim Lesen wie beim
Schreiben brauchte man – damit es eine wirklich fesselnde Reise wird –
lediglich eine glaubwürdige, aber beeindruckende Beziehung. Denn wozu sonst
führten Schwärmereien – besonders wenn man für die Falschen schwärmte?
    »Na, Bill, dann wollen wir mal nach Hause gehen, damit du anfangen
kannst zu lesen«, sagte Richard Abbott an diesem warmen Septemberabend und
fügte dann, zu Miss [71]  Frost gewandt (nicht mit seiner normalen, sondern mit
seiner Bühnenstimme) die letzten Worte hinzu, die Richter Brack im vierten Akt
an Hedda richtet:
    »Wir werden es uns schon gemütlich machen, wir zwei!«
    In diesem Herbst wurde Hedda Gabler zwei
Monate lang geprobt, daher wurde mir dieser Satz sehr vertraut – ganz zu
schweigen von den letzten Sätzen, die Hedda darauf erwidert. Sie ist schon von
der Bühne abgegangen, doch Miss Frost (als

Weitere Kostenlose Bücher