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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Kehlkopfentzündung vorgetäuscht, um
nicht in dem Stück mitwirken zu müssen. Außerdem war Grandpa Harry es leid,
unter der Regie seines langjährigen Geschäftspartners Nils Borkman zu agieren.
    Richard Abbott hatte auf der Favorite River Academy weitgehend freie
Hand, und so unterrichtete er Shakespeare nicht nur, sondern inszenierte ihn
auf dem biederen reinen Jungeninternat, wobei er die weiblichen Rollen mit
Schülerinnen von anderen Schulen oder mit erwachsenen Frauen besetzte (oder mit
einem erfahrenen Frauendarsteller wie Harry Marshall, der diesen
Oberstufenschülern wenigstens beibringen konnte, wie man sich als Mädchen oder
Frau benahm). Richard Abbott hatte nicht nur meine verlassene Mutter geheiratet
und außerdem bewirkt, dass ich für ihn schwärmte; er hatte zusätzlich in
Grandpa Harry eine verwandte Seele gefunden, dem (besonders als Frau) Richard
als Regisseur viel lieber war als der melancholische Norweger.
    In diesen ersten beiden Jahren, als Richard Abbott nicht [86]  nur bei
den First Sister Players auftrat, sondern auch Shakespeare an der Favorite
River Academy unterrichtete und inszenierte, gab es einen Augenblick, in dem
Grandpa Harry einer vertrauten Verlockung nachgab. Auf der scheinbar endlosen
Liste mit Agatha-Christie-Stücken, die auf ihre Aufführung warteten, stand mehr
als ein Krimi mit Hercule Poirot; der dicke Belgier konnte bekanntlich
meisterhaft Mörder dazu bringen, sich selbst zu verraten. Tante Muriel wie auch
Grandpa Harry hatten ungezählte Male Miss Marple gespielt, doch an besetzbaren
dicken Belgiern gab es einen »eklatanten Mangel«, wie Muriel sich ausdrückte.
    Richard Abbott spielte keine Dicken und weigerte sich standhaft, in
Agatha-Christie-Stücken aufzutreten. Und somit hatten wir weiterhin keinen
Hercule Poirot, was Borkman fjordspringermäßig mürrisch stimmte. »Eine Idee
drängt sich geradezu auf, Nils«, sagte Grandpa Harry eines Tages zu dem
aufgewühlten Norweger. »Warum muss es denn immer Hercule Poirot sein. Könntest du dich nicht wenigstens ein Mal mit einer Hermione anfreunden?«
    Und so führten die First Sister Players Black
Coffee auf, mit Grandpa Harry in der Rolle einer schlanken und (fast
ballerinahaft) agilen Belgierin, Hermione Poirot. Aus einem Safe wird die
Formel für einen neuen Sprengstoff gestohlen, ein gewisser Sir Claud wird
vergiftet und so weiter. Das war zwar genauso wenig bemerkenswert wie jedes
andere Agatha-Christie-Stück, aber Harry Marshall als Hermione riss das Haus zu
Beifallsstürmen hin.
    »Agatha Christie rotiert im Grab, Vater!« Mehr brachte meine
kritische Tante Muriel nicht heraus.
    [87]  »Das denke ich auch, Harold!«, pflichtete ihr meine Großmutter
bei.
    »Agatha Christie ist noch nicht tot, Vicky«, ließ Grandpa Harry
meine Nana Victoria wissen und blinzelte mir zu. Und zu seiner Tochter sagte
er: »Agatha Christie ist noch sehr lebendig, Muriel.«
    Oh, wie ich ihn liebte – besonders als eine Sie !
    Aber in den ersten zwei Jahren in unserer Stadt gelang es Richard
Abbott kein einziges Mal, Miss Frost zu einem Gastauftritt in einem der
Shakespeare-Stücke zu überreden, die er für den Theaterclub an der Favorite
River Academy inszenierte. »Besser nicht, Richard«, sagte ihm Miss Frost. »Ich
bin mir gar nicht sicher, ob es für diese Jungs gut wäre, wenn ich mich da oben exponiere – damit meine ich, es sind alles Knaben,
sie sind alle jung, und sie sind alle sehr beeinflussbar. «
    »Aber Shakespeare kann Spaß machen, Miss Frost«, wandte Richard ein.
»Wir können ein Stück nehmen, das nur Spaß macht.«
    »Besser nicht, Richard«, wiederholte sie, und das hieß wohl, Ende
der Debatte. Miss Frost ließ sich nicht beschwatzen, vielleicht wollte sie auch
schlicht in keinem Shakespeare mitspielen, nicht vor diesen ach so beeinflussbaren Jungs. Ich wusste nicht recht, was ich von
ihrer Weigerung halten sollte; ich fand es erregend, sie auf der Bühne zu
sehen, obwohl ich keinen zusätzlichen Anreiz brauchte, um Miss Frost zu lieben
und zu begehren.
    Doch als ich auf die Favorite River Academy überwechselte, war ich
von massenweise älteren Jungs umgeben; sie waren keineswegs besonders nett zu
mir, und manche [88]  trieben mich fast in den Wahnsinn. Für einen toll
aussehenden Jungen aus der Ringermannschaft schwärmte ich aus der Ferne, was
nicht nur an seinem schönen Körper lag. (Ich sage »aus der Ferne«, weil ich mir
anfangs große Mühe gab, mich möglichst weit von ihm entfernt zu

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