In einer Person
Miss
Frosts wahres Alter. »Ich meine nicht ihr vorgebliches Alter!«, rief Nana Victoria. Ich äußerte die Vermutung, Miss Frost sei etwa so
alt wie meine Mom oder ein wenig jünger, doch Grandpa Harry und meine Mutter
sahen einander an. Nun kam etwas, das ich vom Theater kannte – eine dramatische
Pause.
»Nein, Miss Frost ist eher in Muriels Alter«, sagte mein Grandpa.
»Diese Frau ist älter als Muriel!«,
blaffte meine Großmutter.
»Tatsächlich sind sie etwa gleich alt«, sagte meine Mutter ganz
ruhig.
Damals hieß das für mich nur, dass Miss Frost jünger als Muriel
aussah. In Wahrheit dachte ich über das Thema kaum nach. Offenbar mochte Nana
Victoria Miss Frost nicht, und Muriel hatte Probleme mit Miss Frosts Brüsten
oder ihren BH s – oder mit beidem.
Erst später – ich weiß nicht mehr genau, wann, doch es war etliche
Monate nachdem ich mir angewöhnt hatte, mir von Miss Frost in unserer
Stadtbibliothek Romane auszuleihen – hörte ich zufällig mit an, wie meine
gemeine Tante Muriel im selben Tonfall (zu meiner Mutter) über Miss Frost
sprach, den meine Großmutter benutzt hatte. »Und vermutlich benutzt sie immer noch diese albernen Teenager- BH s?« (Worauf meine Mom lediglich nickte.)
Ich erkundigte mich bei Richard Abbott danach, wenn auch nur durch
die Blume. »Was sind Teenager- BH s, Richard?«,
fragte ich ihn beiläufig.
[75] »Hast du etwas darüber gelesen?«, fragte er zurück.
»Nein, nur so eine Frage«, sagte ich ihm.
»Also, Bill, über Teenager- BH s weiß
ich nicht sehr viel«, begann Richard, »aber ich glaube, sie sind als erster BH eines jungen Mädchens gedacht.«
»Warum Teenager ?«, fragte ich.
»Also, Bill«, fuhr Richard fort, »das heißt wohl, dass ein Mädchen,
deren Brüste sich gerade ausbilden, so einen BH trägt, damit ihre Brüste sich erst mal an so was gewöhnen und eine Vorstellung
davon bekommen, worum es bei einem BH überhaupt
geht.«
»Ach«, sagte ich. Ich war völlig verdutzt; ich konnte mir nicht
denken, warum Miss Frosts Brüste sich an etwas gewöhnen sollten, und der Gedanke, dass Brüste Vorstellungen hatten, war für mich auch neu und bedrohlich. Doch immerhin hatte mir meine
Vernarrtheit in Miss Frost gezeigt, dass mein Penis Vorstellungen hatte, die
von meinen eigenen Gedanken völlig losgelöst waren. Und wenn Penisse
Vorstellungen haben konnten, war (für einen Dreizehnjährigen) die Idee gar
nicht so abwegig, dass auch Brüste eigene Gedanken hervorbrachten.
In der Literatur, mit der Miss Frost mich in immer kürzeren
Abständen eindeckte, hatte ich noch keinen aus der Perspektive eines Penisses
erzählten Roman gefunden oder einen, in dem die Vorstellungen der Brüste einer Frau für die Frau selbst irritierend sind – oder für ihre
Freunde und Verwandten. Und doch schienen solche Romane möglich zu sein, wenn
auch nur theoretisch, so wie es möglich (wenn auch
unwahrscheinlich) zu sein schien, dass ich je Sex mit Miss Frost haben könnte.
[76] War es vorausschauend von Miss Frost, mich auf Dickens warten
zu lassen – so dass ich mich sozusagen an ihn heranarbeiten musste? Der erste
Dickens, den sie mir genehmigte, war nicht der, den ich »den entscheidenden«
Dickens-Roman genannt habe; Große Erwartungen musste
ich mir verdienen. Wie viele Dickens-Leser begann ich mit dem Jugend- und
Schauerstück Oliver Twist – in dem der Galgen vor dem
Londoner Newgate-Gefängnis einen dräuenden Schatten auf mehrere der
unvergesslichen Figuren dieses Romans wirft. Wenn Dickens und Hardy eins
gemeinsam haben, dann den fatalistischen Glauben, dass gutherzige und
rechtschaffene Menschen, besonders wenn sie noch jung und unschuldig sind, in
dieser bedrohlichen Welt am meisten zu befürchten haben. (Miss Frost war so
klug, mich auch auf Hardy warten zu lassen. Thomas Hardy ist kein Lesestoff für
Dreizehnjährige.)
Was Oliver Twist angeht, so identifizierte ich mich bereitwillig mit
dem Waisenknaben, der sich allen Schicksalsschlägen zum Trotz nie unterkriegen
lässt. Die von Kriminellen und Ratten verseuchten Gassen von Dickens’ London
waren aufregend weit weg von First Sister, Vermont, und ich war nachsichtiger
als Miss Frost, die an dem Frühwerk bemängelte, dass die Handlung, wie sie
sagte, oft »knirscht«.
»Dickens fehlt es hier eindeutig noch an Erfahrung«, gab mir Miss
Frost zu verstehen.
Mit dreizehn, fast vierzehn war Unerfahrenheit für mich kein Manko.
Für mich war Fagin ein liebenswertes Ungeheuer. Bill Sikes
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