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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Änderungen in meinem Leben kamen zusammen und
gewannen eine unerwartete Eigendynamik: Im Herbst 1957 kam ich auf die Favorite
River Academy, las aber immer noch Große Erwartungen und hatte (wie Sie wissen) Miss Frost davon in Kenntnis gesetzt, dass ich
Schriftsteller werden wollte. Ich war fünfzehn, und Elaine Hadley war eine
weitsichtige, flachbrüstige Vierzehnjährige mit schmetternder Stimme.
    Eines Abends in jenem September klopfte es an der Tür von Richards Lehrerwohnung,
doch es war gerade Lernzeit im Wohnheim – und kein Schüler kam um diese Uhrzeit
an unsere Wohnungstür, wenn er nicht krank war. Ich öffnete die Tür in der
Erwartung, einen kranken Schüler beklommen im Flur stehen zu sehen, doch es war
Nils Borkman, der verstörte Regisseur; er sah aus, als hätte er [83]  ein Gespenst
gesehen oder einen Fjordspringer, den er von früher kannte.
    »Ich habe sie gesehen! Ich habe sie sprechen hören! Sie würde eine
ideale Hedvig abgeben!«, rief Nils Borkman.
    Die arme Elaine Hadley! Ihr Pech, dass sie halb blind war – und
brustlos und eine schrille Stimme hatte. (Was mit Hedvigs Augen nicht stimmte,
war in Die Wildente extrem wichtig.) Elaine, dieses
geschlechtslose, aber klar und deutlich sprechende Kind, würde die Rolle als
unglückliche Hedvig bekommen, und wieder einmal würde Borkman die (gefürchtete) Wildente auf die entgeisterten Bürger von First
Sister loslassen. Kurz nach seinem überraschenden Erfolg als Krogstad in Nora oder Ein Puppenheim würde Nils sich selbst als Gregers
besetzen.
    »Diesen elenden Moralapostel«, wie Richard Abbott Gregers genannt
hatte.
    Obwohl er wild entschlossen war, den Idealisten in Gregers herauszuarbeiten, brachte Nils Borkman dann doch, wenn auch
unfreiwillig, eher die clowneske Seite dieser Figur zum Tragen.
    Niemand, am allerwenigsten der selbstmordgefährdete Norweger, konnte
der vierzehnjährigen Elaine Hadley erklären, ob Hedvig vorhat, die Wildente zu
erschießen, und versehentlich sich erschießt, oder ob
sie – wie Dr. Relling sagt – beabsichtigt, sich
umzubringen. Und doch war Elaine eine hervorragende Hedvig – oder zumindest
eine laute und deutliche.
    Das Publikum fuhr zusammen, als die vierzehnjährige Elaine, kurz
bevor sie als Hedvig von der Bühne abging, rief: »Die Wildente!«
    [84]  In den Regieanweisungen stand: Sie schleicht
zum Regal und nimmt die Pistole – nun, damit war’s für Elaine noch nicht
getan. Sie stürmte mit gezückter Pistole von der Bühne.
    Am meisten irritierte Elaine an dem Stück, dass niemand ein Wort
darüber verliert, was aus der Wildente wird. »Das arme Tier!«, jammerte Elaine.
»Es ist verletzt ! Es will sich ertränken, doch der schreckliche Hund holt es immer wieder vom Meeresgrund herauf. Und die
Ente ist auf einem Dachboden eingesperrt! Was für ein Leben kann eine Wildente
auf einem Dachboden führen? Und nachdem Hedvig sich
selbst abknallt, wer will da behaupten, dass der
verrückte alte Soldat – oder sogar Hjalmar, dieser Schlappschwanz mit seinem ständigen Selbstmitleid – das Tier nicht einfach erschießt ?
Wie diese Ente behandelt wird, ist schlicht grauenhaft !«
    Heute weiß ich, dass Henrik Ibsen bestimmt kein Mitgefühl für die Ente wecken, geschweige denn Nils Borkman etwas Ähnliches
von dem einfach gestrickten Publikum in First Sister, Vermont, erwirken wollte,
doch Elaine Hadley war für ihr restliches Leben dadurch gezeichnet, dass sie
viel zu jung und viel zu unschuldig Teil des hirnlosen Melodrams wurde, das
Borkman aus Die Wildente gemacht hatte.
    Bis heute habe ich keine professionelle Inszenierung dieses Stücks
gesehen; womöglich wäre eine adäquate (oder auch nur halbwegs adäquate)
Aufführung nicht auszuhalten. Aber Elaine Hadley und ich wurden im Laufe der
Zeit gute Freunde, und ich werde einer Freundin gegenüber doch nicht so
unsolidarisch sein, ihre Interpretation des [85]  Stücks in Frage zu stellen. Gina
(Miss Frost) war der mit Abstand mitfühlendste Mensch auf der Bühne, doch es
war die Wildente (wir kriegen den blöden Vogel allerdings nie zu Gesicht!), die
den Löwenanteil von Elaines Mitgefühl abbekam. Die unbeantwortete oder nicht zu
beantwortende Frage »Was wird aus der Ente?« lässt mir bis heute keine Ruhe.
Der Satz wurde sogar eine Begrüßungsformel zwischen Elaine und mir. Alle Kinder
lernen, sich untereinander chiffriert zu unterhalten.
    Grandpa Harry wollte in Die Wildente keine Rolle übernehmen; er hätte sogar eine

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